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Gewalt und Scham: Die Molche von Volker Widmann

Volker Widmann DIE MOLCHEMax und sein Bruder sind neu im Dorf. Der zweite Weltkrieg ist noch nicht lange vorbei, wird von den Eltern aber in Schweigen verhüllt. Auch sonst haben sie den Kindern nicht viel zu erzählen. Die spielen größtenteils sich selbst überlassen in der Natur und in Ruinen. Einige von ihnen erfreuen sich an Gewalt. Max und seine Freunde wollen das nicht länger hinnehmen, kennen aber selbst keine anderen Mittel. Volker Widmanns Die Molche ist ein Coming of Age Roman und zugleich ein erschütterndes Porträt der Nachkriegs-BRD, in der sich eine große unheilvolle, nähere Vergangenheit in den Kindern reproduziert.

Am Anfang von Die Molche muss man an Sam Peckinpahs berühmt-berüchtigte Skorpion-Szene aus The Wild Bunch denken. In dieser erfreuen sich Kinder daran, Skorpione und Ameisen erst zu quälen, dann bei lebendigem Leib zu verbrennen. Sind sie böse oder ist da eine inhärente Lust an Gewalt im Menschen? Diese Frage, wenn auch nicht explizit, schimmert auch durch Die Molche, einer Erzählung über Kinder und abwesende, versehrte und vor allem schweigende Eltern. Sie beginnt mit einem Akt sinnloser, brutaler Gewalt gegen Max’ jüngeren Bruder. Er wird vom Dorfschläger Tschernik und dessen Bande erschlagen, während alle anderen Kinder, einschließlich Max, machtlos dabei stehen:

Es bereitete ihnen großes Vergnügen, der Wehrlosigkeit des Jüngeren, seine verzweifelte Ratlosigkeit, seine vergeblichen Versuche, einen Ausweg zu finden, anzusehen (1).

Alle wissen, dass es Mord war. Aber es geschieht nichts. Max’ Bruder galt als “zart” und sein Tod wird von den Eltern zu einem bedauerlichen, wenn auch nicht sonderlich überraschenden, Unfall erklärt. Das Leben geht weiter. Max ist dabei ziemlich auf sich selbst gestellt: Sein Vater forscht in der Hauptstadt und ist nur am Wochenende zuhause, um die Kinder entweder zu schlagen oder zu ignorieren. Gewalt lauert auch in der Schule in Form eines Rohrstocks, geschwungen von einem saufenden Lehrer und – natürlich – den Dorfschlägern.

Die Molche – erstickt in Gewalt

Ohne viele Freunde erkundet Max auf sich allein gestellt die Natur. Nach und nach findet er Anschluss, zwei Jungs im gleichen Alter sowie die Dorfschönheit Marga. Die Molche – benannt nach den Tieren, die Max bei seinen Streifzügen findet und deren Habitat von Tschernik ausgelöscht wird (Peckinpah!) – lockert nach dem grausigen Beginn etwas auf und liest sich wie eine Sommererzählung mit dem Flair von Stephen Kings Die Leiche (verfilmt als Stand by Me). Max und seine Freunde formen eine Bande, sie onanieren zusammen, erkunden die Natur und schmieden Pläne, wie man Tschernik das Handwerk legen könnte. Nur zufällig stolpern die Jungs dabei über Hinweise, was in den Jahren des Krieges, über die alle so beharrlich schweigen, passiert sein könnte und die natürlich der Schlüssel zur Gewalt im Dorf sind (auch wenn die Kinder selbst diesen Schluss nicht ziehen). Die Väter sind traumatisiert und versehrt und kennen, so legt es Volker Widmanns Erzählung nahe, kein anderes Ventil als Gewalt gegen die eigenen Kinder (auch Tschernik wird von seinem Vater misshandelt). Die Scham über ihre Verbrechen zwingt sie zum Schweigen und beschwört neue Gewalt.

Die Molche ist ein Roman für den Sommer, über eine Jugend, die der heutigen in ihrer zeitweiligen Freizügigkeit wohl die Schamesröte ins Gesicht treiben würde und die wenig bis nichts erzählt bekam von den Verbrechen, die nur wenige Jahre zuvor in ihrem Land verübt worden waren – von der Elterngeneration. Widmann erzählt das wortgewaltig, so sehr, dass man als Leser manchmal inneren Auges den Autor über Synonymen grübeln sieht, wenn Hühner beispielsweise “raunzende Gespräche” (90) führen oder sich Zahnbürsten in Zahnputzbechern “lümmeln” (95). Solch arg gesuchten Formulierungen zum Trotz ist Die Molche ein wirklich gelungener Coming of Age Roman, der uns auch einiges über eine fehlgeschlagene Entnazifizierung in der BRD zu erzählen weiß.

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Die Molche ist bei Dumont erschienen.

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