Eine Welt ohne Männer erscheint in Die Schattenmacherin von Lilly Gollackner nicht unbedingt wie eine Utopie. Das hat auch mit den Umständen zu tun: Die Erde ist 2068 durch den Klimawandel und heftigen Kriegen kaum noch bewohnbar. Ein von Ruth geleitetes Matriarchat hat Sicherheit und Stabilität gebracht. Doch nun ist sie 70 und soll durch die intelligente Ania ersetzt werden: Diese stellt unbequeme Fragen – zu im Schatten getroffenen Entscheidungen und ob man Männer nicht wieder zurückbringen sollte.
Erst kam der Klimawandel, dann die “Verdichtungskriege”, gefolgt von Atombomben und einer Seuche, die alle Männer – im Roman als “Androtok” bezeichnet – ausrottete. Ruth ist alt genug, um sich an all das noch zu erinnern. Ihre designierte Nachfolgerin, Ania, wurde bereits in dieser neuen Ordnung, eine Art matriarchale Planwirtschaft, geboren. 100 Tage lang soll sie die pragmatische Ruth begleiten, um die ihr zugedachte Rolle zu lernen. Ania fühlt sich in Ruths Gegenwart einsam, ist mit ihrem Stil der Herrschaft nicht einverstanden. Schickt sie sich an, eine Reformerin zu werden?
Nur langsam findet sich der Text, der sehr an der Perspektive der beiden ungleichen Protagonistinnen haftet, in diese neue Welt ein. Dem Leser werden Details zur Gesellschaftsordnung und wie sie entstand nur scheibchenweise präsentiert. Die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle vereinnahmen viel Raum, sodass sowohl das Worldbuilding als auch die Handlung nur behäbig in Tritt kommen. Desorientiert hangelt sich der Leser durch die ersten Kapitel – mal ist man fasziniert, mal frustriert. Zeitweilig treten Setting und Handlung in Konkurrenz zueinander durch das häppchenweise Anfüttern von Informationen zu dieser Welt. Ruth und ihr Rat haben eine neue Gesellschaftsordnung geschaffen, die den Menschen das Überleben sichert, Ania ist die Hinterfragende. Da sich Lilly Gollackner jedoch viel Zeit lässt, die Bedingungen dieser nahen Zukunft dem Leser präsent zu machen, kann der zentrale Konflikt zwischen Ruth und Ania nicht die Dynamik entfalten, die aus dem zweifelsfrei interessanten Gedankenspiel einnehmende Literatur machen könnte.
Das Vorenthalten von Informationen ist in der Literatur ein gern genutztes und probates Mittel, um das Interesse der Lesenden zu wecken und Spannung zu erzeugen. Diese Strategie funktioniert freilich besser, wenn sie auf den Plot, nicht auf das Setting abzielt. Es hapert also etwas am strukturellen Aufbau in Die Schattenmacherin: Die Einführung in diese Welt müsste schneller gelingen. Im jüngst bei Luftschacht erschienen dystopischen Roman Das Spiel des Tauchers von Jesse Bell funktioniert das besser: Im ersten Kapitel erfährt der Leser die Mechanismen der Gesellschaft durch einen Dialog zwischen Schülerinnen und einem Lehrer. Auch in Die Schattenmacherin gibt es einen ähnlichen Moment, als sich Ania ein Schulungsvideo ansehen soll – schließlich soll sie in die Geheimnisse der Gesellschaft eingeführt werden, um sie nach Ruths Abgang fortführen zu können. Doch dieser Moment kommt erst, als bereits ein knappes Drittel der Erzählung verstrichen ist. Am Anfang des Buches platziert, hätte es der Erzählung mehr Dringlichkeit verliehen.
Lilly Gollackner verfolgt in Die Schattenmacherin ein interessantes, wenn auch nicht gänzlich neues Gedankenspiel. Leider überschatten ihre theoretischen Überlegungen etwas die Literatur.
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Die Schattenmacherin von Lilly Gollackner ist bei Kremayr & Scheriau erschienen.
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