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Leben retten, Leben leben: Mouth to Mouth von Antoine Wilson

Mouth to Mouth von Antoine WilsonBuch des Jahres Verdacht: Der Amerikaner Antoine Wilson hat mit Mouth to Mouth einen schlanken Ideenroman geschrieben, der Leser über Moral, Schicksal und Kunst nachdenken lässt. Geschrieben mit leichter Feder, liest sich dieser Roman stellenweise wie ein psychologischer Thriller und wie eine satirische Rundreise durch den zeitgenössischen Kunstbetrieb.

Der namenlose Erzähler von Mouth to Mouth ist nur die Randfigur dieser Erzählung. Gestrandet am Flughafen in New York, weil in Island mal wieder ein Vulkan ausgebrochen ist, steht ihm eigentlich eine langweilige Zeit des Wartens bevor, bis der Schriftsteller – kein unwichtiges Detail – nach Berlin weiterreisen kann. Wenn er nicht eine Bekanntschaft aus Studientagen vor nunmehr zwei Jahrzehnten wiedererkennen würde. Jeff Cook ist ebenfalls auf dem Weg nach Europa, er reist erste Klasse und lädt den Erzähler ein, ihm Gesellschaft zu leisten. Hier bekommt der Schriftsteller nicht nur alkoholfreies Bier kostenlos, sondern auch eine Geschichte serviert, wie sie sich eigentlich nur ein Schreibender ausdenken könnte.

Jeff nutzt die Begegnung mit dem Erzähler als Gelegenheit, erstmalig seine Lebensgeschichte – oder eher das Geheimnis dahinter – zu erzählen. Die beiden Männer waren eigentlich nie Freunde, Kommilitonen eher, die vielleicht mal einen Joint geteilt haben, mehr nicht (“Jeff was one of those minor players from the past who claimed for himself an outsize role in my memories” [2]). Die Berührungspunkte sind also nah und weit genug zugleich, um etwas zu teilen, was man sonst mit niemandem teilt – eine vertraute Fremdheit könnte man es vielleicht nennen.

Mouth to Mouth spielt sich als Dialog und wiedergegebene Rede ab: Als Leser nimmt man teil am Austausch zwischen beiden Männern, überwiegend spricht aber Jeff, dessen Geschichte in direkter, überwiegend aber in indirekter und somit vom Schriftsteller editierter Rede wiedergegeben wird.

Jeffs Geschichte ist diese: Kurz nach dem Studium hat seine Freundin mit ihm Schluss gemacht. Er ist als Housesitter gestrandet in der Strandvilla eines berühmten Hollywood-Schauspielers. Als er eines Tages einen Strandspaziergang unternimmt, sieht er einen Mann leblos im Wasser treiben – ohne nachzudenken springt er in die kalten Fluten des Pazifiks und rettet dem Mann das Leben. Die Heldentat erzählt er jedoch niemandem. Tatsächlich empfindet er sie als Last, weiß sie nicht einzuordnen:

I might as well have had a gun to my head. I’d acted on instinct, or at least on the fear of what would happen if I didn’t act. I would have never chosen to find myself in that situation. In fact, I resented it” (22).

Jeff befindet sich in einer transitorischen Lebensphase. Er hat das Studium erst abgeschlossen, wurde verlassen und lebt zeitweise im Haus eines Anderen. Die Lebensrettung hat ihn nun durchgeschüttelt – doch zu welchem Effekt? Anstatt sich als Held feiern zu lassen, versucht er, mehr über den Geretteten herauszufinden. Anstatt ihn direkt anzusprechen, beginnt er ihn zu verfolgen. Es stellt sich heraus, dass er einen sehr einflussreichen Galleristen, Francis, gerettet hat. Dabei findet er unter anderem heraus, dass dieser eine Affäre hat. War die Rettung dieses Menschen wirklich eine gute Tat? Kann es überhaupt eine gute Tat sein, wenn er sie aus Instinkt heraus getan hat? Und ist es immer noch eine gute Tat, wenn er am Ende von ihr profitiert?

As for my state of mind, it was impossible for me to look at anything Francis-related and not feel that I was at least partially responsible for it (54).

Francis ist zwar ein einflussreicher, aber nicht zwingend guter Mensch. Die Angestellten fürchten sich eher vor ihm. Und zu diesen Angestellten wird auch Jeff bald zählen, der eher, so stellt er es dem Erzähler zumindest dar, zufällig in einen Job in der Galerie stolpert. Ebenfalls wird er Francis’ Tochter bald begegnen – und sich verlieben. Die Moral der Lebensrettung verkompliziert sich also von Seite zu Seite, auf denen sich auch die Mechanismen des Kunstmarktes entblättern.

Durch den konversationellen Stil, in dem Mouth to Mouth geschrieben ist, liest sich dieser Text wie eine Unterhaltung zwischen zwei Bekannten und flicht seine grundlegenden Fragen zu Moral, zu Schuld und Sühne geradezu leichtfüßig ein. Große Kunst.

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Mouth to Mouth ist bei Avid Reader Press erschienen. Eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor.

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