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Das Wenige, das noch bleibt: Zensus von Jesse Ball

Zensus von Jesse BallEin Roadtrip der etwas anderen Art. In Jesse Balls eigentümlichem Roman Zensus geht ein Vater mit seinem inzwischen erwachsenen, mit Down-Syndrom lebenden Sohn, auf eine letzte große Reise. Episodenhaft und etwas beklommen fahren die zwei durch ein unbenanntes Land, um den Zensus durchzuführen und doch sich selbst zu vermessen.

Als Kind hatte ich mir vorgestellt, dass die Beziehung, die ich mit meinem erwachsenen Bruder haben würde, der Beziehung eines Vaters zu seinem Sohn sehr ähnlich wäre, also beschloss ich, ein Buch über einen Vater zu schreiben, der, im Angesicht seines Todes, mit seinem erwachsenen Sohn verreist (8).

Diesen persönlichen Prolog stellt Jesse Ball seinem Roman voran. Er hatte einen Bruder mit Down-Syndrom, der 1998 nach langem Leiden verstarb. Als Heranwachsender ging er davon aus, dass er sich eines Tages um ihn kümmern würde. Die Einsichten, die er während des gemeinsamen Lebens gewann, verarbeitet er in fiktionaler Form, indem er die Rolle, die er einzunehmen gedachte, in den Erzähler überführt.

Verwitwet und schwer erkrankt, gibt der Erzähler seine Anstellung als Chirurg auf und heuert beim Zensus an, um gen Norden zu fahren und in alphabetischer Reihenfolge die Ortschaften auf dem Weg aufzunehmen. Dabei begegnet das Vater-Sohn-Gespann unterschiedlichen Leuten, manche freundlich, andere zurückhaltend oder feindselig. Es ist auch kein Zensus, wie man ihn hierzulande kennt, durchgeführt in einem Land, das nicht weiter benannt oder beschrieben wird. So gilt für die Mitarbeiter des Zensus kein Arbeitsschutz. Am Ende jeder Befragung werden die Interviewten auf den Rippen tätowiert. Zensus spielt also in einer entrückten Welt und ist ob des Themas sowohl etwas beklommen als auch von großer Zärtlichkeit.

Es war vor allem mein Sohn, der mich auf diese Arbeit vorbereitet hat, der mir, nicht durch seine Worte, sondern durch seine alltäglichen Handlungen gezeigt hat, dass wir einander von Natur aus ein Maßstab sind, dass wir einander jeden Moment gegenseitig vermessen. Das war jener Zensus, den er mit seiner Geburt begann, den er bis heute fortsetzt. Es war sein Zensus, der zu unserem geführt hat (15).

Zensus ist ein eigentümlicher Roman. Fast typisch für ein literarisches Roadmovie ist der Text sehr episodenhaft. Die einzelnen Begegnungen, die Vater und Sohn im Laufe ihrer Reise haben, entfalten keinen starken narrativen Sog und dienen eher als Anstöße zu der metaphysischen Reise, die hier eigentlich beschrieben wird. Und hier kommt Zensus vor allem in der zweiten Hälfte wirklich in fahrt: Zensus stellt die Frage – offensichtlich, eigentlich -, was es wert ist, festgehalten zu werden oder was Demut ist (nichts Bestimmtes von anderen erwarten, ohne diese zu unterschätzen). Es finden sich wunderbare Reflexionen, beispielsweise zum Thema Bürde und welche Art Freiheit man in ihr findet.

Zensus ist, wenn auch auf Handlungsebene ein nicht sonderlich spannender, doch strukturell eigensinniger und interessanter Text, der sich ob der biografischen Einblicke, die der Autor dem Text vorausschickt und seinen klugen Einsichten über das Leben fast essayistisch liest und durchaus auch über das Verhältnis zwischen Fiktion und Autofiktion nachdenken lässt.

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Zensus ist bei Luftschacht erschienen.

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