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Große Erwartungen: Ambivalenz von Amélie Nothomb

AmbivalenzDominique ist Sekretärin fernab von Paris, als ein Verehrer versucht, sie im Sturm zu erobern. Sein intensives Werben geht auf. Claude ist ein Mann großer Ambitionen, doch als er Dominique geehelicht und geschwängert hat, erkaltet er. Ambivalenz von Amélie Nothomb ist ein kurzer, geschmeidig erzählter Roman über große Erwartungen und ein grausames Herz.

Dominique lebt ein gewöhnliches Leben. Mit Fleiß arbeitet sie in den 1970er Jahren im ländlichen Frankreich für ein Import-Export Unternehmen, lebt noch bei ihren Eltern und ist alleinstehend. Sie selbst sieht sich nicht als sonderlich begehrenswert. Umso mehr überrascht es sie, als Claude sich offensiv um sie bemüht. Sie ist zurückhaltend – er ist gutaussehend, charmant, ambitioniert. Dominique kann damit nicht so richtig umgehen, sie war noch nie verliebt:

Ja, aber in ihn sollte sie es sein. Claude wollte sie heiraten, er liebte sie. Er vereinte alle Eigenschaften, von denen sie geträumt hatte, und doch war sie in seiner Gegenwart beklommen (17).

Die Ambivalenz, die sie in sich spürt, wie sich zeigen soll, täuscht sie nicht. Aber als Claude ihr einen Flakon Chanel No. 5 aus einer Geschäftsreise nach Paris mitbringt, wird ein Feuer in ihr entfacht. Der Duft an ihrem Körper betört sie und dieses Feuer greift auf ihre Einstellung zu Claude über. Sie heiraten, ziehen nach Paris, bekommen eine Tochter. Risse werden schnell offenbar: Claude ist sehr auf gesellschaftliches Ansehen fokussiert. Das Kind, dessen Empfängnis und Geburt alles andere als reibungslos liefen für Dominique, interessiert Claude nach der Geburt nicht weiter – obwohl er es unbedingt wollte. Ambivalenz schildert, trotz seiner 128 Seiten, die Komplette Geschichte dieser Ehe, ohne verkürzend zu wirken. Und so wirkt es stimmig, wenn sich der Mittelteil stärker auf die heranwachsende Tochter verlegt, die des Vaters Ablehnung reproduziert:

Mit fünf Jahren war Épicène klar, dass sie ihren Vater nicht liebte. Das war keine Offenbarung, sondern das erste Formulieren einer Wahrheit, deren Keim sie schon ein, zwei Jahre früher in sich gespürt hatte” (37).

Warum ist dieser Mann so kalt und warum ist er so versessen darauf, gesellschaftlich aufzusteigen, wenn er immer freudlos wirkt? Amélie Nothomb beantwortet diese Frage in einer effektvollen und doch schlüssigen und angenehm zurückhaltend inszenierten Wendung, die einen kurzen, der Haupthandlung vorangestellten Epilog zu einem Heureka-Moment erstrahlen lässt.

Ambivalenz ist ein angenehm kurzes Buch mit einer wunderbar kontrollierten Erzählstimme. Die Autorin geht mit ihrem Schlüsselmoment aufs Ganze, sie wagt und gewinnt. Dabei erinnert sie uns, dass wenn sich etwas nicht richtig anfühlt, dies auch kein schöner Duft übertünchen kann.

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Ambivalenz ist bei Diogenes erschienen.

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