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Transnationale Eliten: Schlachtensee von Helene Hegemann

SchlachtenseeHelene Hegemann betrat 2010 die literarische Bühne als 18-jährige Sensation aus der sich ein Plagiatsskandal entwickelte. Ich las dann Strobo statt Axolotl Roadkill. Heute, zwölf Jahre später, ist sie etabliert als Regisseurin und Schriftstellerin. Schlachtensee ist ihr erster Erzählband und meine erste wirkliche Begegnung mit ihr. Ein zwiespältiges Erlebnis: Hegemann hat zweifelsfrei eine eigene Stimme – und das ist schon mal viel wert – aber die einzelnen Stories in Schlachtensee lassen einen oft kalt. Es ist eine Sammlung, die kumulativ funktioniert.

Wenn Hegemanns Verlag, KiWi, auf dem Umschlag Schlachtensee als “perfide konstruiertes Psychogramm unserer Gesellschaft” bezeichnet, hat er nicht Unrecht – bis auf kleines Detail. Ja, die hier versammelten Stories sind so wenig plotgetrieben, dass man sie lieber als Stimmungsbild lesen sollte. Was an der Einschätzung des Verlags allerdings nicht stimmt – dieses kleine Detail – ist die Verwendung des Wortes “unserer”. Vielleicht tauchen hier Schräglagen auf, die gesamtgesellschaftlich zu sehen sind, doch finden diese Erzählungen in Milieus statt, in denen sich die wenigsten Leute wohl wiedererkennen würden. Die Protagonisten sind gebildet, auf schnoddrige Weise eloquent, in ihrer sexuellen Orientierung oft nicht so ganz festgelegt, Drogen nicht abgeneigt und transnational unterwegs. Man trifft auf Oligarchen, Models, Kunsthistoriker irgendwo zwischen Moskau und New York. Von der mitteldeutschen Kleinstadt ist das also ziemlich weit weg. Die “Mischung aus Langeweile und klirrender Verzweifelung” (35), die einige der Figuren durchleben, hat freilich überall Anschlussfähigkeit.

Da die wenigsten Stories eine plotbasierte Handlung haben, voller Abschweifungen sind und einige Protagonisten in verschiedenen Erzählungen vorkommen, ist es mitunter nicht zielführend, sie im Einzelnen zu betrachten. Dennoch ein kurzer Ausschnitt: In “Snoopy, das Meer und ich” ist Esther gerade auf Surfurlaub, als sie nicht nur ein Nahtoderlebnis hat, sondern auch erfährt, dass ihr Vater an Krebs erkrankt ist. Darauf folgt “Die Pfauengeschichte”, in der von einem erschlagenen Pfau erzählt wird, es aber eigentlich um die Leute geht, die diese Geschichte erzählen und die offenbar kein Problem darin sehen, sich über den Mord an einem Tier zu echauffieren, während sie Gänsestopfleber speisen. Die längste, dritte Geschichte, deren kyrillischen Titel ich zu faul via Sonderzeichen abzutippen bin, erzählt von einem Model, dass sich beim Baden in der Wolga mit Chlamydien im Auge infiziert hat. Es ist mit fast sechzig Seiten die längste Erzählung und eine echte Tour de Force. Zwar will die Erzählerin erläutern, wie es zu der unglücklichen Infektion kam, tatsächlich entblättert sich aber ein Tableau westlich-russischer Dekadenz, in deren Zentrum ein Oligarch steht, mit dem die Erzählerin zeitweise etwas hat.

Und so geht es weiter: In ihrer Tonalität umgangssprachlich und wortgewandt zugleich, gelegentlich metafiktional, entspinnen sich Stories über Leute, denen oft ein innerer Kern fehlt. Alle sind irgendwie abgeschnitten – von sich, ihrer Umgebung, dem Leben an sich. Sie durchleben teils aberwitzige und für den Leser wahrlich unterhaltsame Episoden, an deren Grund sich eine große Melancholie breit gemacht hat. Was ist das für eine Gesellschaft, die solche Gestalten hervorbringt, mit austauschbaren Orten, abwegigen Namen und Biografien, deren Einzelteile kaum zueinander passen zu scheinen?

Schlachtensee ist unterhaltsam und sperrig zugleich. Und als Zeitdiagnose ziemlich ernüchternd.

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Schlachtensee ist bei KiWi erschienen.

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