Wir schreiben das Jahr 2030. Gut zehn Jahre ist es her, dass das Mädchen mit den Zöpfen die Klimarevolution lostreten wollte. Es ist trotzdem alles den Bach runtergegangen; in Schweden baut man inzwischen Wein an. Im Sommer regnet es kaum, dafür dann unaufhörlich, wenn es einmal losgeht. Greg, Hauptfigur in Ein heißes Jahr des Franzosen Philippe Djian, zählt zu den Männern, die an der Misere teilhaben, denn er arbeitet für ein Labor, das Untersuchungsergebnisse für den Hersteller eines potenziell tödlichen Pestizids herstellt. Die Begegnung mit einer Aktivistin bringt seine Welt aus dem Gleichgewicht.
Hygge Feelings: Unsere Stimmen bei Nacht von Franziska Fischer
Heimelich sitzt man im Wollpullover mit einer heißen Schokolade am regenbetröpfelten Fenster und schaut den Blättern beim Färben und Fallen zu: Es macht den Eindruck, dass Franziska Fischer mit ihrem zweiten Roman Unsere Stimmen bei Nacht dieses herbstliche Hyggefeeling in Romanform versprachlichen wollte. Allerdings erzählt der Roman ein ganzes Jahr in einer alten Berliner Villa, die das Heim einer ungewöhnlichen WG ist.
Alter weißer Mann: Biloxi von Mary Miller
Die amerikanische Schriftstellerin Mary Miller wusste zuletzt mit dem Storyband Always Happy Hour zu begeistern, in dem es überwiegend um Generation-Y Frauen ging, die mit ihren Leben hadern. In Biloxi wendet sich Miller einem 63-jährigen Amerikaner zu, der per Zufall zu einem Hund kommt. Er kommt im richtigen Augenblick, denn Louis McDonald Jr. scheint dauerhaft auf dem Abstellgleis angelangt zu sein.
Frauen in den Straßen: Mirmar von Josefine Soppa
In Mirmar von Josefine Soppa erzählt eine 32-Jährige von ihrem Leben in einer prekären Arbeitswelt und von ihrer Mutter, die plötzlich verschwindet. Es ist ein Text ohne Namen, ohne Männer und einer geheimnisvollen Bewegung – oder Bewegungen? – von Frauen. Mirmar ist ein nachdenklicher, auf Feminismus und Klassizismus fokussierter Roman – und ziemlich schwere Kost.
Flottes Pfötchen: Der Hund der nur Englisch sprach von Linus Reichlin
In Der Hund der nur Englisch sprach von Linus Reichlin findet der 64-jährige Felix Sell in einem alten Plattencover ein paar Jahrzehnte alte LSD-Trips. Eher pragmatisch veranlagt, sollen sie nicht verschwendet sein und er schluckt sie kurzerhand. Kurz darauf steht ein Jack Russel Terrier vor der Tür – und spricht mit ihm. Wieder wenige Momente darauf suchen zwei Leute nach dem Tier – eine irrwitzige Odyssee, die in Berlin beginnt und in Florida endet, nimmt ihren Lauf.
Erinnern und vergessen: Hinter der Hecke die Welt von Gianna Molinari
Ein Dorf hat Angst, vergessen zu werden und zu verschwinden: Versteckt hinter einer merkwürdig-imposanten Hecke, die sogar eine Handvoll Touristen anzieht, gibt es nur eine Straße und wenig Menschen. Die einzigen zwei Kinder des Dorfes, Pina und Lobo, wachsen seit einigen Jahren nicht mehr. Stillstand und ein schrumpfendes Dorf und schmelzende Gletscher in der Arktis: Gianna Molinaris zweiter Roman Hinter der Hecke die Welt ist ein Text über Stillstand und Wandel, über Verschwinden und Erinnern.
Die Vergangenheit wird fremd: Sinkende Sterne von Thomas Hettche
Männer sind… sinkende Sterne? In Thomas Hettches neuem Roman fährt der Autor Thomas Hettche nach dem Tod der Eltern ins Schweizer Kanton Wallis. Doch etwas ist anders: Eine Naturkatastrophe hat die Rhone aufgestaut und das Tal vom restlichen Land abgeschnitten. Kurzerhand hat sich ein faschistisches Regime alter Patrizierfamilien an die Macht gesetzt. Autofiktional, intertextuell, diskurslastig und poetisch erzählt Hettche in Sinkende Sterne von Kultur, Natur, Literatur und davon, wie die Mitte nicht mehr hält.
Vergessen, aber frei: Nincshof von Johanna Sebauer
Nincshof, eine “handvoll Häuser, zusammengerottet am Ende von Österreich”, möchte am liebsten von der weiten Welt vergessen werden: Keine Fahrradtouristen, keine Neuzugezogenen sollen mehr den Weg finden, damit die Nincshofer unter sich bleiben können – so wie es früher schon war. Johanna Sebauers Roman ist eine urkomische Satire über Heimat, Sichtbarkeit, Tradition und Wandel im Angesicht einer immer bedrohlicher empfundenen Welt.
Lösch dich aus: Zeiten der Langeweile von Jenifer Becker
Ich poste, also bin ich? In Jennifer Beckers Roman Zeiten der Langeweile steigt die Ich-Erzählerin Mila aus. Kein kurzes digital Detox, sondern ein gezieltes Löschen jeder Hinterlassenschaft im Internet, geboren aus einer ungewissen Angst vor der eigenen digitalen Sichtbarkeit. Was gestern cool war, ist morgen vielleicht der Grund, warum man gecancelt wird. Zeiten der Langeweile ist ein Text, der über Identität und Gesellschaft nachdenken lässt.
Mythen und Menschen: Weil da war was im Wasser von Luca Kieser
Kürzlich ließ Henry Hoke in seinem hervorragenden Roman Open Throat eine in Hollywood gestrandete Großkatze über ihr Leben erzählen. Luca Kieser hatte eine im Ansatz ähnliche Idee: In Weil da war was im Wasser erspinnen die acht Arme eines Riesenkalmars eine matafiktionale, Zeit und Raum überbrückende Erzählung. Doch hier hören die Gemeinsamkeiten zwischen diesen Texten bereits auf: Trifft Hokes Erzählung in ihrer Schlichtheit Herz und Hirn des Lesers, bedient sich Kieser an allen Registern der postmodernen Literatur.