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Dunkles Gefühl vom Ende der Jugend: Der Hirtenstern von Alan Hollinghurst

Der HirtensternDer Brite Edward Manners kommt in einer Stadt in Flandern mit “dem dunkleren Gefühl, dass [er] das Ende der Jugend längst erreicht hatte “(12) an. Der Blick in den Spiegel enthüllt einen “bebrillten molligen Englischlehrer “ (37). Der hadernde Schriftsteller im Zentrum von Alan Hollinghursts Der Hirtenstern wird in einer flämischen Stadt als Tutor zwei Jungen unterrichten. Einer davon, der gut situierte, 17-jährige Luc, nimmt ihn mit seiner ganz eigenen Schönheit gefangen. Ein obsessives Wandern durch die unbenannte, mittelalterliche Stadt nicht unähnlich Thomas Manns Tod in Venedig nimmt seinen Lauf.

Wie der alternder Schriftsteller von Aschenbach in Manns berühmter Novelle erkennt Edward Manners die Zeichen des Alterns, wenngleich er mit Anfang 30 noch wesentlich jünger und weitaus weniger eitel ist. Die große Gemeinsamkeit zwischen beiden Männern ist ihre Obsession mit einem noch nicht ganz erwachsenen blonden Mann, die sie mit innerer Unruhe rastlos durch die Straßen einer unbekannten Stadt treibt. Anders als Manns Novelle ist dieser mit 600 Seiten weitaus umfangreichere Roman auch unter anderen Vorzeichen geschrieben – Der Hirtenstern ist fest im schwulen Milieu angesiedelt, während Manns Werk natürlich einen großen Bogen um das Wort mit H macht.

Dennoch liest sich Der Hirtenstern wie eine stark expandierte Variation des deutschen Klassikers – auch in sprachlicher Hinsicht, wenngleich ein leichter, humorvoller Ton in den langen, geschmeidigen Sätzen schwingt. Von seinem explizit homosexuellen Inhalt abgesehen, ist es ein Roman realistischer Prägung, wie man ihn zur Jahrhundertwende lesen konnte (der Name des Protagonisten, zu deutsch “Sitten”, ist in dieser und anderer Hinsicht sprechend). Anders als bei Mann ist die Erzählung nicht auf die individuelle Obsession des Protagonisten zurückgeworfen, sondern zeichnet ein Panorama des homosexuellen Lebens in einer mittelgroßen, mittelalterlich geprägten Stadt in Flandern.

Wie bei Mann finden sich Elemente des Künstlerromans – zwar ist das künstlerische Schaffen des Protagonisten in der erzählten Zeit praktisch zum Erliegen gekommen, doch hat er den rasenden Geist eines Künstlers, der sich während seines Aufenthalts intensiv mit dem fiktionalen Maler Orst beschäftigt. Der Symbolist wirkte in der Stadt, der Vater seines zweiten, unattraktiven Schülers Marcel ist der Direktor des ihm gewidmeten Museums. Die Parallele zwischen fiktionalem Maler und Manners sind frappierend: Orst war der rothaarigen Schauspielerin Jane verfallen, die seiner Kunst als Muse diente – weit über ihr mysteriöses Verschwinden hinaus.

Neben dem Unterricht und der Obsession gegenüber Luc sowie der Auseinandersetzung mit dem Künstler Orst erzählt Hollinghurst ausschweifend über Manners’ Begegnungen in schwulen Bars und Cruisinggebieten, von dessen erster Liebe in England und dem sinistren Matt, mit dem Manners zeitweise eine Affäre hat und der im Stalking und Grooming des jungen Luc später eine unheilvolle Rolle spielt.

Der Albino Verlag hat diesen Klassiker queerer englischer Literatur erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Der Hirtenstern ist zweifelsfrei zeitlos – ist gibt kaum zeitgenössische popkulturelle oder politische Verweise, die den Text einer bestimmte Zeit zuschreiben, noch handelt es sich um einen Coming-out-Roman – in seiner Freizügigkeit könnte Der Hirtenstern ebenso gut aus der heutigen Zeit sein. Dennoch ist er nicht ohne Längen: Geradezu detailversessen wird erzählt – von Zitaten über Bildbeschreibungen, Small Talk, Flirts bis hin zu Traumsequenzen ist Edward Manners ein wahrlich gesprächiger Erzähler. Er ist auch ein Mann, der sehr self-conscious und irrlichternd ist – ein grausames Gebet am flüchtigen Altar der Schönheit.

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Der Hirtenstern von Alan Hollinghurst erschien erstmals 1994 unter dem Titel The Folding Star. Die Übersetzung von Joachim Bartholome ist bei Albino erhältlich.

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