Allgemein,  Kritik,  Literatur

Wir Propagandisten von Gabriel Wolkenfeld

Wir PropagandistenWir Propagandisten – der Titel Gabriel Wolkenfelds erstmals 2015 veröffentlichten Debütromans, der nun neu vom Albino Verlag verlegt wird, ist eine Anspielung an die im Laufe des letzten Jahrzehnts in Russland verabschiedeten Gesetze, die es strafbar machen, affirmativ über Homosexualität zu sprechen. Wer offen schwul lebt, ist in Putins autokratischem Staat gewissermaßen ein Propagandist. Erzählt wird, basierend auf den eigenen Erfahrungen des Autors, von einem deutschen Mann, der als Fremdsprachendozent ein Jahr in Jekaterinburg lebt.

2012 kommt der namenlose Erzähler aus Berlin in Jekaterinburg an – ohne große Erwartungen. Er lässt die Erfahrung auf sich zukommen. Anschluss hat er sich schon vorab im Internet gesichert: Mitja holt ihn zusammen mit seinen Freunden vom Flughafen ab und bringt ihn nach einem ersten Besäufnis schließlich zur WG, in der er zusammen mit dem anderen Deutschen Friedrich leben wird. Die Akklimatisierung fällt leicht und schwer zugleich: Bevor er seine Arbeit als Deutschlehrer an die Uni aufnehmen kann, muss er sich durch die unangenehme Bürokratie kämpfen. So wird von Ausländern wie ihm verlangt, einen negativen HIV-Test vorzulegen – zusammen mit reichlich anderen körperlichen Untersuchungen und Auskünften. Schon hier wird klar, dass in Russland ein eisiger Wind weht – die Verknüpfung mit HIV und Ausländern, die Tabuisierung des Themas nimmt voraus, was sich in den kommenden Jahren in Hinblick auf sexuelle Minderheiten auch rechtlich verschärfen wird.

Das ist die eine, die offizielle Seite Russlands, in der Homosexualität nicht wirklich existiert, eine Krankheit ist, die allerhöchstens aus dem Ausland eingeschleppt wird. Auf der anderen Seite stehen Mitja und seine Freunde, die den Erzähler schnell bekannt machen mit der verborgenen aber lebendigen queeren Szene der Stadt. Man amüsiert sich in Clubs und bei WG-Partys. Während der Erzähler seine Zeit genießt und versucht, sich von Mitja nicht als Partner vereinnahmen zu lassen, vergrößert sich die Sehnsucht seiner Kontakte nach Emigration. Für viele seiner neuen Freunde ist es unverständlich, wie er Berlin gegen Jekaterinburg eintauschen kann. Denn es zeichnet sich ab, dass sich die ohnehin nicht freundliche Situation gegenüber queeren Menschen nur noch verschärfen wird.

Dieses eine Jahr zeichnet der Autor, der heute vorwiegend als Lyriker arbeitet, chronologisch und ohne große Dramaturgie nach. Es dauert etwas, sich in Wir Propagandisten einzufinden: Schachtelsätze und Einschübe machen den Text schwerer lesbar, als er sein sollte. Zweifelsohne gibt schöne Formulierungen und Bilder (“aus meinem Mund schlüpfen die Wörter wie Larven, S.46) und einen augenzwinkernden Humor, der gelegentlich in einer leider etwas anstrengenden Syntax und gestelzten Wortwahl (“obzwar”) versumpft. Gerade den rauschhaften Partyszenen hätte ein entsprechender Erzählstil gut gestanden. Davon abgesehen ist Wir Propagandisten ein inhaltlich zweifelsfrei lohnenswerter Text über eine Marginalisierung, die man hierzulande heute nur noch erahnen kann. Empfehlenswert.

*

Wir Propagandisten von Gabriel Wolkenfeld erschien erstmals 2015 im Männerschwarm Verlag. Die besprochene Ausgabe mit neuem Nachwort des Autors ist 2023 bei Albino erschienen.

Dieser Blog ist frei von Werbung und Trackern. Wenn dir das und der Inhalt gefallen, kannst du mir hier gern einen Kaffee spendieren: Kaffee ausgeben.