Der Anfang ist das Ende: Auf der ersten Seite des Debütromans von Terhi Kokkonen hat Karo ihren Mann ermordet, der – immerhin – in den letzten Augenblicken seines Lebens doch noch die Polarlichter sehen darf. Das Paar hat einen Urlaub in Lappland gemacht und ist nach einem Unfall in der Hotelanlage Arctic Mirage gestrandet. Der Roman erzählt in leicht beklommener Atmosphäre rückblickend, wie es zu der Tat kam.
Karo und Risto sind gemachte Leute: Er hat eine erfolgreiche Software-Firma und muss kaum mehr ins Büro, sie hat mit ihrer besten Freundin eine PR-Agentur gegründet. Immer wenn es zwischen ihnen kriselt, bringt ein Urlaub frischen Wind. Also raus aus Helsinki, auf nach Lappland – endlich einmal die Polarlichter sehen, die Batterien auftanken, wieder zueinander finden. Nachdem Kokkonen das Ende der Erzählung in einem kurzen Absatz auf der ersten Seite vorweggenommen hat, setzt die Erzählung beim Ende des Urlaubs an. Die Polarlichter haben sie nicht gesehen, dafür auf dem Heimweg auf eisglatter Straße einen Unfall gebaut. Karo kommt im Behandlungszimmer zu sich – außer einer gebrochenen Nase ist ihr nichts passiert. Wie Falschgeld und schnell unwirsch soll sie durch den restlichen Text stolpern. Der Arzt empfiehlt, zur Sicherheit eine Nacht zu bleiben. Im Hotel Arctic Mirage beziehen Sie ein Ferienhaus, das sie aber für mindestens zwei Nächte buchen müssen. Risto möchte gar länger bleiben, weiter ausspannen, mal Skifahren gehen.
“Unsere Liebe beruht weniger auf romantischer Liebe als auf der Tatsache, dass wir zusammen in die gleiche Richtung gehen. Und dass der andere weiß, wie es sich anfühlt, am Rand zu stehen (54-55)”
Arctic Mirage ist von einer seltsamen Atmosphäre. In kurzen, fast spröden Sätzen haftet die Erzählung an der Protagonistin, springt aber auch gelegentlich zum Hotelarzt oder zur mürrischen Rezeptionistin. Enigmatisch bleibt einzig Risto, der sich dabei versucht, mit der Rezeptionistin zu flirten, viel Wein trinkt und sonst auf der Couch sitzt. Aus den zwei erzwungenen Tagen im Hotel wird eine Woche – der Arzt hat Karo krankgeschrieben, auch wenn sie das als Unternehmerin nicht braucht. Zwischen dem Paar ist die Luft auf nicht greifbare Weise dick, eine klirrende Spannung liegt in der Luft. Unterhaltungen werden abgewürgt – da ist etwas, das zu klären ist. Warum verschwinden Sachen von Karo? Hat sie beim Unfall nicht noch ein blaues Auto auf der Gegenfahrbahn gesehen? Warum beharrt Risto auf seiner Halskrause, obwohl es ihm laut Auskunft des Arztes gut gehen sollte?
Behutsam und ruhig erzählt, entfaltet Arctic Mirage eine eigentümliche Spannung. Die Sätze sind klirrend kalt, die Stimmung bedrückt, wenn nicht feindselig. Das Ende, das die Autorin dem Text voranstellt, gerät schnell ins Abseits, es zwingt sich nicht auf, ist wie ein Subtext, der im Text schlummert, während sich der Leser wundert – über die Wortlosigkeit zwischen dem zentralen Paar, den mürrischen Hotelangestellten und ihren Verstrickungen. Klassenunterschiede, kulturelle Aneignung rücken hier in den Vordergrund, während Karo versucht, ihr eigenes Rätsel zu lösen. Doch das hat Methode: Erst spät schält sich heraus, dass Arctic Mirage eigentlich eine Erzählung über Gaslighting ist. Die letzte Seite schickt den Leser zurück zu all den subtilen Momenten, in denen das vermeintlich anstrengende Verhalten Karos eben nur durch andere so dargestellt wird.
Empfehlenswert.
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Arctic Mirage ist bei Hanser Berlin erschienen.
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