Ein raffinierter Roman über Freundschaft, Krankheit und das Aufwachsen im postsozialistischen Osten: Paula Fürstenbergs Weltalltage ist ein Highlight des literarischen Frühjahrs, in dessen Zentrum eine kriselnde Freundschaft steht. Dabei entfaltet sich nicht nur ein Portrait der Ich-Erzählerin und ihres besten Freundes, sondern auch des Aufwachsens im Post-Wende-Osten.
Die unbenannte Erzählerin in Weltalltage ist chronisch krank, wurde aber nie diagnostiziert: Regelmäßig überkommt sie ein Schwindel, für den sie trotz zahlloser Arzttermine keine Erklärung hat. Die Krankheit ist zwar ohne Bezeichnung, aber mit Konsequenzen: Sie darf keinen Führerschein machen. Sie sollte auch nicht unbefestigt Schwimmen oder Radfahren. Dafür hat sie aber einen besten Freund, Max. Der ist wie sie Sohn einer alleinerziehenden Mutter und von einem körperlichen Selbstbewusstsein, das ihr fremd ist. Er baut einen Anhänger für sein Fahrrad, er begleitet sie zum Schwimmen, er ist ihr Banknachbar in der Schule.
Zwei Menschen, die sich aufeinander verlassen können. So scheint es zumindest. Doch in der erzählten Gegenwart geht es Max nicht gut: Er ist einer schweren Depression verfallen, ein Krankenhausaufenthalt scheint nötig. Die Krankheit macht auch Risse in der Freundschaft sichtbar: Alte Selbstverständlichkeiten scheinen nicht mehr sicher: War es Max, der sich um die Erzählerin kümmerte, scheint er nun eher auf Hilfe angewiesen. War diese Freundschaft auch eine unausgeglichene Abhängigkeitsbeziehung?
Ein Graben tut sich zwischen beiden auf, der auch dadurch vertieft wird, dass die Erzählerin einen Roman über Max schreiben will – den Roman, so scheint es, aus dem Weltalltage gewachsen ist. Der Text ist also auch ein metafiktionales Spiel mit der Wahrheit und Fiktion, die sich automatisch einschleicht, sobald etwas versprachlicht wird. Der Text stellt weiter eine allgemeine Frage zur Praxis des Schreibens: Ist die Geschichte von Max und der Freundschaft nicht auch die Geschichte der Erzählerin – welches Recht hat sie, sie überhaupt zu erzählen?
Die Geschichte selbst entfaltet sich in Kapiteln, die listenartig angelegt sind und sich nicht exklusiv um das Verhältnis der beiden Freunde drehen. Würde als Paratext nicht das Wort “Roman” dem Text vorangestellt sein, könnte man ihn durchaus auch als originelles Essay lesen. Angereichert mit Zitaten großer Schriftsteller und Philosophen geht es hier u.a. um Krankheit, ihrem Verhältnis zur Sprache und in letzter Konsequenz auch ihre Sichtbarkeit in der heutigen Gesellschaft.
Ein weiterer, wichtiger Aspekt dieses Textes ist Milieu: Beide Freunde sind Jahrgang 1987, wuchsen in den Umbruchjahren ohne Väter auf. So definiert sich die Freundschaft eben auch über Andersartigkeit: Am ostdeutschen Gymnasium waren beide die einzigen Kinder, die mit nur einem Elternteil aufwachsen. Beim Studium in westdeutschen Städten eint beide der fehlende Habitus (sowie die Netzwerke), den westdeutsche Kommilitonen an den Tag legen und der ihnen den Start ins post-akademische Berufsleben ungleich erleichtert.
Weltalltage ein facettenreicher, origineller Roman, den man sich schon jetzt für die Jahresbestenliste merken kann.
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Weltalltage von Paula Fürstenberg ist bei KiWi erschienen.
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