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People are a fucking puzzle: The Passenger von Cormac McCarthy

The Passenger von Cormac McCarthyLange angekündigt, lange verschoben: Seinen darbenden Verehren schenkt der inzwischen 89-jährige McCarthy, dem man locker drei Klassiker der zeitgenössischen amerikanischen Erzählliteratur zuordnen kann, ein opulentes Mahl mit Nachtisch. The Passenger ist ein verschachtelter, rätselhafter Ideenroman verpackt als Thriller. Es geht um Bobby Western, Sohn eines Mannes, der an der Entwicklung der Atombombe mitwirke, dessen Trauer um die verstorbene Schwester Alicia, welche im fast zeitgleich erschienenen Roman Stella Maris die Hauptfigur ist, sowie dessen scheinbarer Verstrickung in einer Verschwörung. Klingt komplex und verwirrend? Ist es auch!

Bobby Western war wie einst sein Vater Physiker, doch gab er die Laufbahn irgendwann auf, um zwischenzeitlich in Europa Rennautos zu fahren. In der Gegenwart des Textes, 1980, lebt er in New Orleans als Bergungstaucher. Gleich zu Beginn des Romans taucht er in die Schwärze des brackigen Wassers Louisianas ab, um einen Flugzeugabsturz zu untersuchen. Es ist ein schwieriger Auftrag, der alsbald noch komplizierter und gefährlicher wird, als Bobby und sein Kumpel Oiler längst wieder im Trockenen sind. Denn im Flugzeug – von dessen Absturz übrigens nirgends berichtet wird – fehlt nicht nur der Flugschreiber, sondern offenbar auch ein Passagier. Doch wirklich aufmerksam darauf wird Bobby erst, als seine Wohnung von Unbekannten auf den Kopf gestellt und er von mysteriösen Agenten befragt wird.

Wo ist Bobby hier hinein getaucht? Das ist nur eine der Fragen, die die Handlung von The Passenger aufwirft. Nicht minder rätselhaft sind die kursiv gesetzten Passagen, die jedes Kapitel dieses Romans öffnen: Hier begegnet der Leser Alicia, Bobbys jüngerer Schwester, die sich mit The Kid, einer seltsamen Gestalt mit Flossen statt Händen unterhält. Bobby und Alicia haben sich geliebt – scheinbar mehr als es Geschwister tun sollten. Bobby war klug, Alicia war klüger – ein schizophrenes Mathe-Genie, das am Leben keine Freude hatte und sich schließlich selbst tötete. Dieses ungeklärte Verhältnis zur Schwester sowie die Trauer um ihren Verlust wiegen schwer auf Bobby – ebenso wie die Erinnerung an den Vater und dieses andere Ding, das er in und über die Welt brachte: Die Gefahr der nuklearen Auslöschung, die in einer eindringlichen Passage anhand ihrer Zerstörungskraft in Hiroshima auch beschrieben wird.

The Passenger ist ein zutiefst seltsamer, fast elliptischer und Schleifen ziehender Roman. Bobby ist bald gezwungen, unterzutauchen. Warum man ihn verfolgt, weiß er eigentlich nicht. Was war in dem Flugzeug, was ist daraus verschwunden? Gab es den zehnten Passagier überhaupt? Die Erzählung springt zwischen Bobby und Alicia, zwischen den Orten und Zeiten hin und her. Immer wieder wird Bobby in Gespräche verstrickt, in denen sich Physik mit Philosophie mischt (dem Leser sei geraten, Wikipedia zur Hand zu haben). Er begegnet einer Transfrau, zu der ihn eine rührende Freundschaft verbindet, ein alter Studienfreund, ein von Verschwörungstheorien angetaner privater Ermittler und andere Gestalten. All dem ist schwer zu folgen, und doch bleibt man an diesen Zeilen haften, weil die Prosa diesen unnachahmlich idiosynkratischen Cormac McCarthy-Sound hat und interessante Fragen aufwirft (“You cant illustrate the unknown” [156], “there is more wisdom in sorrow than in joy” [245]).

Der vermisste Passagier des abgestürzten Flugzeugs gerät alsbald aus dem Blick. Dieser Thriller-Plot ist nichts weiter als eine Analogie für die Themen, die in The Passenger wirklich zählen. Denn nur weil man erwartet, dass etwas da ist, muss es nicht so sein. Die Katze lebt – und ist dennoch tot. Und während der Leser vielleicht erwartet, dieses Rätsel gelöst zu bekommen, stellt The Passenger große Fragen. Nach Sünde. Verlust. Wahrheit.

Dieses Puzzle zu lösen, wird Leser noch weit über die letzte Seite hinaus beschäftigen. Es ist ein schwieriger, hoch literarischer Roman. Vielleicht bringt der Schwestern-Roman Stella Maris etwas Licht in diese pechschwarze Dunkelheit. Verwirrend und doch fesselnd. Große Kunst.

But above all and lastly the world does not know that you are here. You think that you understand this. But you dont. Not in your heart you dont. If you did you would be terrified. And you’re not. Not yet. And now, good night (128).

*

Die Rezension bezieht sich auf die bei Picador erschienene Originalfassung. Die Übersetzung ist als Der Passagier bei Rowohlt erschienen.

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