Fiktion oder Wahrsagung? In Sasha Filipenkos aktuellem Roman Die Jagd begegnen dem Leser Umstände, die mit Russlands Einmarsch in die Ukraine schreckliche Realität geworden sind. Die Jagd ist aber nicht schon jetzt einer der interessantesten Romane des Jahres allein wegen des Inhalts, sprich der verblüffenden Nähe dieser Fiktion zur aktuellen geopolitischen Situation, sondern vor allem wegen seiner cleveren, bei allem Schrecken trotzdem unterhaltsamen Konstruktion.
Vor Kurzem kursierte in sozialen Medien ein Video, das die Verhaftung einer russischen Frau zeigte, die ein leeres Plakat in den Händen hielt. Ein geradezu gespenstisches Deja-vu für alle, die Sasha Filipenkos Erzählung Die Jagd gelesen haben: Denn hier lesen wir in einer Binnenerzählung von einer Gerichtsverhandlung, in der ein Blogger angeklagt ist, weil er einen leeren Post veröffentlicht hat – und alle, die ihn geliked und geteilt haben dazu. Es ist eine fiktive Dystopie, die in Die Jagd eingeflochten ist und in anderer Form wahr geworden scheint.
Diese Binnenerzählung stammt aus der Feder des russischen Journalisten Anton, der seinen Job trotz möglicher Gefahren ernst und den Oligarchen Wolodja Slawin ins Visier nimmt. Dessen Familie weilt am liebsten in Südfrankreich, genießt das savoir vivre, das der Reichtum des Vaters ermöglicht. Weil man offiziell aber die Dekadenz des Westens ablehnt und unschöne Berichte in der Presse auftauchen, werden die Familienmitglieder zurück ins Land geholt. Die reale Berichterstattung ist nicht weit:
Papa prognostiziert den unvermeidlichen Zusammenbruch der Konsumgesellschaft, konstatiert die Ineffizienz der Demokratie und besteht auf die Notwendigkeit, die Welt auf Basis orthodoxer Prinzipien zu verändern. Auf eine Frage der Journalistin […] verkündet Papa, er fürchte keine Sanktionen, verfüge über keinerlei Immobilien im Ausland, sein einziger Reichtum sei das heilige Russland. Die Kinder lachen. Mamas Miene verdüstert sich (8).
Man predigt also Wasser und gönnt sich reichlich Wein. So einfach lassen sich die wahren Lebensumstände aber nicht verheimlichen. Das Getuschel hört nicht auf – die anhaltenden Nachforschungen Antons gehen dem Oligarchen immer mehr an die Nerven. Es braucht also etwas Druck. Der Patriarch unterhält dafür ein Team an Schergen, die sich mit Rufmord und Einschüchterung bestens auskennen und sich der Sache annehmen – eine Hexenjagd beginnt. Der Vorwurf, dass Anton, wie andere vor ihm, vom Westen bezahlt wird, ist noch das geringste Übel.
Sasha Filipenko, dem mit Der ehemalige Sohn bereits ein erschütterndes Porträt des Bruderstaats Belarus gelungen ist, erzählt multiperspektivisch, heftet sich mal an Anton, mal an die Familienmitglieder des Oligarchen, mal an dessen Schergen und entblättert dabei eine ziemlich skrupellose Gesellschaft (“Kann man in diesem Land denn erahnen, was ernsthafte Folgen nach sich zieht? [151]). Den Mächtigen ist schlicht nicht beizukommen, wer deren Spiel mitspielt, dem stehen viele Türen offen. Jene, die sich diesem rechtsbefreiten, scheinheiligen System widersetzen, müssen damit rechnen, dass ihr Leben zerstört wird. Die Anderen dazwischen, die kommen kaum vor. Sie treten höchstens in Person von Antons Frau in Erscheinung, die – die Gefahr witternd – lieber dafür plädiert, den Kopf einzuziehen.
So bedrückend das ist, vor allem hinsichtlich der realen Situation, so unterhaltsam liest sich Die Jagd. Das hat mit dem bunten, wechselnden Personal zu tun, den lebhaften, ruppigen, komischen und schrecklichen Dialogen sowie der sich stetig aufbauenden und wieder und wieder verzögerten Spannung, die sich dann um so effektiver in einem tragischen Finale auflöst. Uneingeschränkte Empfehlung.
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Die Jagd ist bei Diogenes erschienen.
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