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Ein unheimliches Rauschen: Die rote Pyramide von Vladimir Sorokin

Die rote Pyramide von Vladimir SorokinManche Bücher kommen zur rechten Zeit; und so schlug ich Vladimir Sorokins neuen Erzählband Die rote Pyramide auf, als die Kulisse an der Ukraine immer bedrohlicher wurde. Nun, nachdem der Schrecken in der Realität angekommen ist, klingen diese Erzählungen, viele davon von einem mal mehr, mal weniger greifbaren Gefühl des Unheils heimgesucht, noch eindringlicher nach.

Die neun Erzählungen in Die rote Pyramide sind oft nicht einfach zu greifen, was durchaus damit in Verbindung steht, dass man als Westeuropäer auf diesen Seiten in einen anderen Kulturraum geworfen wird, eine Welt hinter dem eigenen Horizont. Fremde Namen, fremde Orte, Anspielungen, die man nicht versteht. Gleichzeitig ist die Realität, in der diese Texte spielen, oft verzerrt. Es sind Grotesken, Zerrspiegel einer Wirklichkeit abseits der Zeit. Denn auch darüber bleibt der Leser im Dunkeln: Wann sich diese Geschichte abspielen. Die russische Gegenwart und Vergangenheit werden vermengt, das Eine liest sich wie das Andere. Der Effekt ist rätselhaft und unheimlich: In der Titelgeschichte, die die Sammlung eröffnet, sitzt Jura, der Protagonist, im falschen Zug. Er ist auf dem Weg zu einer Party, bei der er nie ankommt, stattdessen begegnet er in einem verlassenen Bahnhof einem wunderlichen Mann, der Jura von einer Pyramide erzählt, die, Mitten in Moskau, aber für das bloße Auge nicht sichtbar, unablässig ein rotes Rauschen aussendet. Ein rotes Rauschen, das jeden erfasst.

Die folgende Erzählung “Das schwarze Pferd mit dem weissen Auge” entführt den Leser in ein pastorales Russland. Eine Familie macht Heu, bei der Mittagspause rennt ein herrenloses schwarzes Pferd über die Wiese. Dascha, die Jüngste der Familie, beobachtet die Szenerie mit einem unguten Gefühl: “Mit angehaltenem Atem beobachtete sie, wie heimtückisch die Menschen sich dem Pferd näherten: der Vater mit einem Stück Brot in der Hand, Onkel Grischa mit dem Riemen hinter dem Rücken” (35). Man fühlt sich etwas an Bismarcks Zuckerbrot und Peitsche erinnert, eine diffuse Spannung legt sich über den Text. Das Pferd läuft davon, Dascha begegnet dem Pferd erneut, als sie Walderdbeeren sammelt und erfährt eine grausige Vision des Todes, ein Moment des Erwachens aus kindlicher Naivität.

In der “Der Fingernagel” wird es völlig absurd: Hier explodiert eine Dinnergesellschaft über der Frage, ob man sich den Po besser mit dem Finger oder Papier abwischt. Die längste und vielleicht stärkste Erzählung ”Lila Schwäne” gleitet schon auf den ersten Seiten ins Absurde ab. Hat sich der Patriarch in einen Kranich verwandelt und ist davon geflogen? Noch schlimmer scheint zu sein, dass sich alle Atomsprengköpfe in Zucker verwandelt haben: Russland wird als ein Land des “Als-ob” geschildert, “Freiheit – als ob, Gesetze – als ob […] Wenn das auch noch zum Als-ob wird, dann ist gar nichts mehr” (130). Russland erscheint als Land, dass auf der Drohung nuklearen Terrors fußt.

Sorokins Geschichten erzählen von einer unheilvollen Macht, die die Menschen umgibt, die ganz konkrete Auswüchse hat, wie in der Folter-Erzählung “Der Tag des Tschekistan”, die die Menschen aber auch ungreifbar wie ein “rotes Rauschen” durchdringt. Es sind unbequeme Geschichten, meisterhaft und abwechslungsreich erzählt, voller irrwitziger Wendungen, in denen sich Humor und Schrecken zu einem entrückenden und bedrückenden Leseerlebnis vermengen.

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Die rote Pyramide ist bei KiWi erschienen.

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