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“Doch das Wünschen hilft nicht”: Supermilch von Philipp Böhm

Supermilch von Philipp BöhmDer Verbrecher Verlag hat vor drei Jahren eine neue Serie gestartet: Jedes Jahr wird ein Erzählband verlegt. Das kurze form Programm bekommt mit Philipp Böhms Supermilch seinen stärksten Eintrag: Erzählt in einer im Werden befindlichen Zukunft lassen die temporeichen Texte die Keime der Gegenwart zu nicht immer schönen Blüten wachsen.

Viele der in Supermilch versammelten Erzählungen stehen unter Strom – ebenso wie die jeweiligen Erzähler. Es ist die schöne neue digitale Welt, ohne Elektrizität geht also nichts. Los geht es recht atemlos mit “German Content Superstar”: In diesen von Anglizismen gepflasterten Zeilen nimmt uns ein Werbetexter in seine Arbeitswelt, in der alles hip aber irgendwie auch auf Performance getrimmt ist: “wir arbeiten hart, wir feiern hart, ich schreibe das Listicle über die schönsten Strände Kubas, die ich noch nie gesehen habe und nie sehen werde” (11). Wer je in einer Werbeagentur gearbeitet hat, kennt die Praxis. So flott, so gewöhnlich, so unterhaltsam: “German Content Superstar” erzählt von einer Welt, die frisch und frei wirkt, aber voller (Gruppen-)zwänge ist. Böhm dreht die Lautstärke jedenfalls gleich zu Beginn voll auf, geht bei seinen Formulierungen Risiken ein, die öfter als nicht ins Schwarze treffen:

Mein Herz ist ein stabiles, haltbares Kondom, das immer weiter aufgeblasen wird (11).

Ähnlich widrige Arbeitsbedingungen begegnen dem Leser im folgenden Text “Die Berge unter der Stadt”, in der Rocko und Achill in der Kanalisation damit beauftragt sind, riesige Fettberge wegzukerchern. Kamerateams verirren sich gelegentlich in diesen stinkenden Untergrund, Achill ist dadurch unverhofft zum Meme geworden. Rocko ist deswegen etwas neidisch. Er wäre lieber woanders. Achill mag die Ruhe seines Jobs. Ruhe und Entschleunigung, weg aus der Stadt, über der Hologramme wie in Blade Runner für Produkte werben, das ist auch das Begehr der vier Freunde in “Unser Flecken”, die sich ein Haus in einer kleinen Gemeinde kaufen. Doch die Sache mit der Entschleunigung will nicht so richtig funktionieren. Die Erzählung kippt etwas ins Surreale, als auf dem Acker vor dem Haus rätselhafte Boxen auftauchen, zu viel äußerer Trubel für die nach Achtsamkeit und Selbstfindung strebenden Menschen – im Grunde genommen einfach nur narzisstische Persönlichkeiten, die ihre Mitte niemals finden werden, ganz gleich, an welchen Ort es sie verschlägt.

Anerkennung, Verbindung, Sinn: Im Digitalen wie in der Flucht davon gelingt es den Protagonisten in Supermilch nicht, zu finden was sie suchen. Das ist auch in “Das Macdougall-Projekt” ähnlich, in dem ein Start-up verspricht, Kontakt zu den Toten herstellen zu können, die Protagonisten aber höchstens in den Wahnsinn treibt.

Mal aus erster, mal aus dritter Person erzählt Philipp Böhm von einer Welt voller Entfremdung, in der “Hologramme, größer als Düsenjets” über den Städten flackern (97). Er macht dabei keine Kompromisse, lässt seine Erzähler nicht die Welt erklären, in der sie leben. Die Zukunft ist hier selbstverständlich, was dem Leseerlebnis stets etwas Entrückendes gibt. Doch so verfremdet manche Dinge erscheinen, so gegenwärtig sind sie zur gleichen Zeit: YouTube-Trends, entfremdete, sinnbefreite Arbeitsverhältnisse, der Wunsch nach Verbindung und Sinn, der zuweilen in frustrierter Gewalt endet, verbinden diese Erzählungen mit unserer Zeit und untereinander: Denn diese Texte sind “aus einer Zeit.” Böhms etwas nerviger Eigenschaft, Telefone grundsätzlich als “Phone” zu bezeichnen zum Trotz: Er geht aufs Ganze und meistens funktioniert es wunderbar. Von dieser Supermilch sollte man kosten.

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Supermilch ist bei Verbrecher erschienen.

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