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„Die Trauer ist ein nasses Gefühl im Magen“: Auszeit von Hannah Lühmann

Auszeit Hannah LühmannHannah Lühmanns Debütroman Auszeit ist ein Buch der Innerlichkeit. Henriette ist an einem toten Punkt in ihrem Leben angekommen: Nachdem sie ihr aus einer Affäre entstandenes Kind abgetrieben hat, fällt sie in eine Depression, die sie alles in Frage stellen und ratlos zurück lässt. Mit ihrer besten Freundin Paula fährt sie in eine einsame Waldhütte in Bayern, um aus dieser Auszeit heraus neu zu sich zu finden. Die Reise ist, wie sich am Ende herausstellt, eine Schleife.

“Der Tag, an dem ich in die Klinik fuhr, um mein Kind abzutreiben, war ein Dienstag, es war noch Frühling” (7): Mit diesem Satz, in dem eine gewisse Taubheit schwingt, eröffnet Auszeit. Henriette hat ein Kind abgetrieben, das sie eigentlich nicht wollte, und doch fühlt sie sich schuldig, verloren. Das hat auch damit zu tun, dass ihr geistiges Kind brach liegt: Seit Jahren schreibt sie an einer Dissertation über die Kulturgeschichte von Werwölfen, weiß aber nicht so recht, wie sie das Projekt zuende bringen soll.

Das Thema Werwolf ist durchaus im Zusammenhang mit Henriette zu sehen, die mythischen Wesen Werwölfe sind schließlich Wandlungsprozessen unterlegen – physisch wie psychisch. Henriette hat den körperlichen Wandlungsprozess – ihre Schwangerschaft – unterbrochen. Auch sonst fällt ihr der Übertritt in die Erwachsenenwelt mit Anfang 30 schwer. Ein für die Generation Y durchaus typisches Gefühl der zusammenhangslosen Beliebkeit, des Nichtankommens, macht ihr zu schaffen: Die Jugend wird verlängert bis in die 30er, man erlebt viel, studiert, hat alle Möglichkeiten, aber wenig Geld. Irgendwann ergeben diese Zufälligkeiten einen Sinn, doch die Puzzleteile sind für Henriette noch nicht ineinandergefallen. Das Versprechen der Freiheit und Emanzipation enthält eben auch viel Selbstverantwortung. Und die Entscheidung, zu der sie sich nun durchgerungen hat, lässt sie in Schockstarre zurück.

Während Henriette vom Gefühl eingenommen ist, dass ihr Leben Zufall oder ein schlechter Witz ist, begegnet sie ihrer besten Freundin Paula mit Bewunderung: Die macht Yoga, kann kochen, wirkt selbstbewusst. Auszeit ist sogesehen auch ein Text über Freundschaft – darüber, wie wichtig sie ist und darüber, wie man Freunde falsch einschätzen kann. Wenn ich schreibe, dass Auszeit ein Text der Innerlichkeit ist, bedeutet das auch, das Henriette so von ihren Selbstzweifeln und Schuldgefühlen gefangen ist, dass sie die Komplexität ihrer besten Freundin eigentlich gar nicht mehr wahrnimmt. Und so droht auch diese wichtige Säule ihres Lebens schließlich wegzubrechen.

Auszeit ist ein in ruhiger Sprache verfasster Text, der sich überwiegend im Inneren der Erzählerin abspielt. In ihm schwelen diffus die Dilemmata der heutigen Zeit – besonders der Druck der Selbstverwirklichung und -findung. Die Wahlmöglichkeiten machen das Leben vielleicht freier, aber nicht einfacher. Daher kann man Hannah Lühmanns Text auch durchaus konservativ verstehen, da er in einem großen Rückzieher endet, nachdem sich Henriette dann ziemlich selbstsüchtig verhält. Doch dies an dieser Stelle aufzuschlüsseln, würde zu viel vorweg zu nehmen. Wie dem auch sei: Auszeit ist – zugegeben – ein bisschen Generation Y Nabelschau, aber euch ein wirklich gelungenes, ambivalentes Debüt.

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Auszeit ist bei Hanser Blau erschienen.

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