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Der Fuchs der hat das Herz gestohlen: Restlöcher von Lena Müller

Restlöcher von Lena MüllerIrgendwie denkt man bei einem Titel wie Restlöcher doch zwangsläufig an vom Kohleabbau gerissene Furchen, offene Wunden in der Landschaft. Man denkt an strukturschwache Regionen, an Wandel. Doch Lena Müllers Debütroman bricht diese Erwartungen, die Löcher sind eher in den Menschen zu finden, die sie beschreibt: Es ist eine Erzählung über sehnende Menschen und die Widersprüchlichkeiten, die in ihnen wohnen.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist Sando, der in der Stadt lebt und frisch getrennt ist. Ein Anruf seiner Schwester Mili führt in aufs Land: Sie informiert ihn darüber, dass Clara, die Mutter, verschwunden ist. Also fährt Sando, der uns mit dem Bild einer Baustelle auf der ersten Seite vorgestellt wird, nachhause. Er “Fühlt sich längst nicht mehr intakt, längst zernagt” (14). Seine Liebe, ein Herr, der nur Fuchs genannt wird und selbst in der Gegenwart des Textes nicht auftaucht, hat ihn verlassen. Seine Arbeit an der Uni scheint ihn ebenfalls nirgendwo hinzuführen – er hat nicht vor, die Dissertation zu schreiben, die von ihm erwartet wird.

Restlöcher findet zu großen Teilen in der Vergangenheit statt. Da geistern Erinnerungen an den Fuchs durch Sando. Dieser zeichnete sich dadurch aus, schwer zu fassen sein. Ein freier Mann, der sich in linksalternativen Kreisen für Flüchtlinge einsetzt und über kein Telefon verfügt. Einen noch größeren Raum nehmen die Erinnerungen an die Familiengeschichte ein. Eigentlich als klassisches Familienbild geplant, bricht Clara in den 80ern aus, um in Westberlin, diese vom Rest des Landes abgeschnittene Insel, zu studieren. Sie zieht mit Mili und Sando in ein Studentenwohnheim und lässt ihren Dieter zurück. Dass Clara also verschwindet, ist nicht neu.

Dieses Leben im Studentenwohnheim steht dann auch im Zentrum der zweiten Romanhälfte. Clara lebt in zwei Welten: Wenn die Kinder im Bett sind, trinkt sie mit den Mitbewohnern Wein und hat anregende Diskussionen. Ein Flirt mit einem spanischen Austauschstudenten steht im Kontrast zu dem Leben, aus dem sie – zumindest für die Dauer des Studiums – ausgebrochen ist. Zitate aus Hildegard Heises Flucht vor der Widersprüchlichkeit. Kapitalistische Produktionsweise und Geschlechterbeziehung weben sich in den Text: Die Frage, die Heise und letztlich auch Lena Müller beschäftigt, ist jene, wie das Individuum mit den Erwartungen, die die Welt an es stellt – einzigartig sein und gleichzeitig Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen – navigieren kann, ohne “zernagt” zu werden. Wie soll man frei und eigenständig sein, wenn man sich von anderen abhängig macht? Wie ist die Rolle als Mutter und Ehefrau mit Selbstentfaltung vereinbar? Ist Familie so überhaupt möglich? Es bleibt ein unbestimmtes Sehnen. Parallelen zwischen Eltern und Sohn werden assoziativ sichtbar: Sando hat “zu viele Sehnsüchte und de[n] Wunsch, sie loszuwerden an einen anderen” (39). Eigentlich spiegelt sich seine Situation mit der seines Vaters: Beide müssen Menschen ziehen lassen, in der Hoffnung, dass sie zurückfinden.

Restlöcher ist ein ruhig erzählter Roman, der mehr an Ideen als an Handlung interessiert ist. Die fundamentalen Widersprüche im Individuum, die der Text aufzeigt, vermag auch er nicht zu konsolidieren und lädt eher ein, manche Dinge, die als gegeben hingenommen werden, zu hinterfragen. Auch sonst hinterlässt Lena Müller manche Löcher in ihrem Text, die, auch wenn sie für den Kern des Romans in letzter Konsequenz unerheblich sind, den Leser auf Handlungsebene emotional mehr involviert und dem Ganzen mehr Dringlichkeit gegeben hätten – zum Beispiel, was diesen durch den Text geisternden Fuchs für Sando überhaupt so interessant gemacht hat, dass sein Verschwinden ihn so zernagt zurücklässt. Aber vielleicht sind Menschen auch einfach so – sehnend nach dem, was sie nicht ganz greifen können.

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Restlöcher ist bei Edition Nautilus erschienen.

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