Lange angekündigt, lange verschoben: Seinen darbenden Verehren schenkt der inzwischen 89-jährige McCarthy, dem man locker drei Klassiker der zeitgenössischen amerikanischen Erzählliteratur zuordnen kann, ein opulentes Mahl mit Nachtisch. The Passenger ist ein verschachtelter, rätselhafter Ideenroman verpackt als Thriller. Es geht um Bobby Western, Sohn eines Mannes, der an der Entwicklung der Atombombe mitwirke, dessen Trauer um die verstorbene Schwester Alicia, welche im fast zeitgleich erschienenen Roman Stella Maris die Hauptfigur ist, sowie dessen scheinbarer Verstrickung in einer Verschwörung. Klingt komplex und verwirrend? Ist es auch!
Fly me to the moon: Epiphany von Lawrence
Eine Epiphanie ist ein Moment der plötzlichen Erkenntnis. Im religiösen Kontext versteht man darunter auch eine Offenbarung. Also ein Moment großer Klarheit. Und irgendwie denke ich – es mag am verwaschenen grauen Cover liegen – beim Hören von Epiphany, der neuen, beim Giegling Label erschienenen Doppel-LP des Hamburger Produzenten Peter Kersten a.k.a. Lawrence irgendwie an eine verträumte Reise zum Mond und die neue Perspektive, die es einem geben muss, von dort den blauen Planeten schwerelos im Nichts zu sehen. Die Musik hat freilich nichts von donnernden Raketenstarts: Die insgesamt 11 Tracks sind anschmiegsamer Deep House, zu dem man gern die Augen schließt und losfliegt.
Wann das mit Jeanne begann von Helmut Krausser
Eine Spritztour durch Frankreich im Mittelalter: Wann das mit Jeanne begann ist die verschachtelte und zumindest für den Leser vergnügliche Erzählung zweiter Weißmagier, die sich in der Geschichte der Jungfrau von Orleans verlieren und dabei dieser zweifelsfrei faszinierenden Figur neue Blickwinkel abgewinnen. Helmut Kraussers Roman ist ein Scharmützel, das seine Karten erst nach und nach ausspielt, fantasievoll und verspielt zugleich, wendungsreich und gut recherchiert.
Individualität, Gemeinwohl: Felix von Holger Brüns
Tom ist Anfang 20 und Teil der links-alternative Szene der Studentenstadt Göttingen Mitte der 1980er Jahre. Er läuft bei Demonstrationen mit, beteiligt sich an Podiumsdiskussionen, macht seinen Zivildienst an der Uniklinik und hängt in der Disko ab. Er hegt den Wunsch, Schauspieler zu werden. Er ist Idealist, lehnt kapitalistisches Besitzdenken ab. Doch wie verhält es sich, als die Liebe von ihm Besitz ergreift? In Felix erzählt Holger Brüns von der alternativen BRD und dem schwierigen Balanceakt zwischen individueller Entfaltung und dem Wunsch, ein Teil von etwas Ganzem zu sein.
Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela Krien
Die Mauer ist weg. Im Sommer 1990 erlebt die bald 17-jährige Marie eine Wende im Äußeren und im Inneren. Daniela Kriens Roman Irgendwann werden wir uns alles erzählen entführt den Leser in die ostdeutsche Provinz wenige Monate vor der Wiedervereinigung. Atmosphärisch dicht erzählt, gelingt der Autorin ein packendes Portrait einer Jugend zwischen Aufbruch, Verharren und Unsicherheit.
Die 3 Bücher des Jahres 2022
Sobald die ersten Blätter von den Bäumen regnen, denke ich an die Bücher, die mich in diesem Jahr begeistern konnten. Gefühlt wird es Jahr zu Jahr schwieriger, mich mit mir selbst einig zu werden. Schon bevor in diesem Jahr überhaupt neue Blätter an den Bäumen sprießten, hätte ich schon drei Bücher gehabt. Und während ich das Jahr literarisch Revue passieren lasse und mich durch diese Seite klicke, sind da plötzlich sechs Tabs mit Titeln offen, die ich guten Gewissens hier aufführen könnte…
Wenn Träumen ein Job wäre: Andere Sterne von Ingvild H. Rishøi
Eine moderne Weihnachtsgeschichte: In Andere Sterne von Ingvild H. Rishøi müssen zwei Mädchen in einem Osloer Arbeiterviertel Weihnachtsbäume verkaufen, weil es der alkoholkranke Vater einfach nicht gebacken bekommt. Das klingt erst einmal trist und wenig nach skandinavischer Idylle, hat aber viel Herzliches und erstaunlich wenig Kitsch. Ein gutes Buch, nicht nur während der Adventszeit.
November Rain: Borders Of The Sun von Sa Pa
Ein Sounddesign mit hohem Wiedererkennungswert ist schon mal die halbe Miete. Der Produzent Sa Pa ist unverwechselbar: Ein verrauschtes, knisterndes, basslastiges Klanggebräu aus Field Recordings, deren Ursprung kaum herauszuhören ist, ist allen Veröffentlichungen zueigen. Verwechslungsgefahr besteht höchsten zu eigenen Werken: Die neueste EP Borders of the Sun bringt zusammen, was man so ähnlich schon auf seinen ersten beiden LPs gehört hat.
Das Wenige, das noch bleibt: Zensus von Jesse Ball
Ein Roadtrip der etwas anderen Art. In Jesse Balls eigentümlichem Roman Zensus geht ein Vater mit seinem inzwischen erwachsenen, mit Down-Syndrom lebenden Sohn, auf eine letzte große Reise. Episodenhaft und etwas beklommen fahren die zwei durch ein unbenanntes Land, um den Zensus durchzuführen und doch sich selbst zu vermessen.
Out Of Place Artefacts II von Vril & Rødhåd
Out Of Place Artefacts sind Objekte, die in einem ungewöhnlichen Kontext gefunden werden. Ihnen wohnt also etwas Rätselhaftes, Mystisches inne – als würde man einen iPod in einer antiken Ausgrabungsstätte finden. Aus diesem konzeptionellen Überbau haben die beiden Produzenten Vril und Rødhåd 2020 ein gemeinsames Projekt geschaffen, das ihre Fähigkeiten zu einer perfekten Symbiose verschmilzt und nun seine Fortsetzung findet. Und anders als man es von Filmen kennt – eine gewisse Sci-Fi Ästhetik wohnt auch Out Of Place Artefacts II inne – ist die Fortsetzung tatsächlich noch ein Stück besser als der bereits überaus stimmige Vorgänger.