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Ein rückwärts fließender Fluss: Die Gespenster von Demmin von Verena Kessler

Die Gespenster von Demmin Verena Kessler RezensionDie Vergangenheit wird uns immer heimsuchen, ganz gleich, ob wir anwesend waren. In Verena Kesslers Romandebüt Die Gespenster von Demmin begegnen wir dem kecken Teenager Larissa, die Gegenwart und die Vergangenheit ihrer Heimatstadt Demmin sowie ihrer Familie navigieren muss, um erwachsen zu werden. Es ist ein wunderbar erzählter Coming-of-Age Roman, um dessen freche Erzählstimme sich ein Trauerschleier schmiegt.

“Die Peene ist ein Fluss von hier”, steht im Prolog von Die Gespenster von Demmin. In diesem Fluss ereignete sich im Mai 1945 einer der größten Massenselbstmorde der deutschen Geschichte. Nachdem alle Brücken gesprengt wurden, um den Vormarsch der Russen zu verlangsamen, blieben die Bürger der Stadt zurück. Aus Angst vor Vergeltung packten sich viele Frauen die Taschen voller Steine, banden sich ihre Kinder an den Körper und gingen in den Fluss: “Im Wasser trieben leblose Körper, am Ufer lagen die Schwäne” (143). Wie ist das, an so einem Ort aufzuwachsen?, könnte eine Frage sein, die Verena Kessler sich vor dem Schreiben ihres Debüts gestellt haben mag. Es klingt erst einmal bedrückend und dieser Hintergrund sorgt in Die Gespenster von Demmin für eine graue Grundierung. Aber: Der Text liest sich flott, um nicht zu sagen: witzig. 

Dieser Umstand ist Larissa, die lieber Larry genannt wird, zu verdanken. Sie erzählt mal flapsig, frech oder pampig von ihrem Leben, führt den Leser durch die Stadt und ihren Prozess des Erwachsenwerdens. Es sind die alltäglichen Dinge, die das Mädchen vordergründig bewegen – Stress mit der besten Freundin, der irgendwie blöde aber doch ganz nette Junge aus dem Netto, das Verhältnis zur Mutter, die seit der Trennung vom Vater damit beschäftigt ist, eine neue Liebe zu finden. 

Gebrochen werden diese Passagen mit Kapiteln, die aus der dritten Person von Larrys älterer Nachbarin Frau Dohlberg erzählen, die damals, als auch ihre Mutter ins Wasser ging, dabei war und kurz davor ist, in ein Pflegeheim umzuziehen. Die Gegenwart und die Vergangenheit wohnen in Demmin also – überwiegend stillschweigend – Tür an Tür. 

Wie die Vergangenheit unterschwellig die Gegenwart informiert, wird auch in Larry selbst sichtbar. Das pubertierende Mädchen möchte Kriegsreporterin werden. Als Vorbereitung will sie sich dafür abhärten, übt Luftanhalten oder Kopfüberhängen. Ihr großes Vorbild ist David Blaine. Unausgesprochen und doch evident ist hier die Vergangenheit, die wie die Peene weiter durch Demmin fließt.

“Wer aushalten kann, muss vor gar nichts Angst haben” (11): Aushalten und Angst, das sind zwei Dinge, die in einem so jungen Leben im Nachwendedeutschland eigentlich keine große Rolle spielen dürften. Aber es sind Dinge, in denen die Geschichte Demmins wohnt, dem Ort dieses jungen Lebens. Suizid, Ertrinken, Unglück schimmern immer wieder an die Oberfläche des Textes, private und historische Tragödien stehen sich gegenüber, verschwimmen. Dem zu Trotz ist Die Gespenster von Demmin ein Text voller Lebendigkeit und einer hinreißenden jungen Heldin, die man gerne dabei begleitet, an der Geschichte ihrer Heimat und der ihrer Familie zu wachsen. Ein famoses Debüt! 

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Die Gespenster von Demmin ist bei Hanser erschienen.

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