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Kaleidoskop der Geschichte(n): Ukrainische Kunst 1912-2023 im Albertinum

Kaleidoskop der Geschichte(n): Ukrainische Kunst 1912-2023 im AlbertinumDie Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben im Albertinum eine einzigartige Sonderausstellung zusammengetragen: Kaleidoskop der Geschichte(n): Ukrainische Kunst 1912-2023 im Albertinum zeigt Gemälde, Skulpturen, Fotografien und Installationen ukrainischer Künstler – viele davon erstmals außer Landes zu sehen und somit vor der Zerstörung des Krieges geschützt sowie Werke, die erst in diesem Jahr für die Ausstellung geschaffen wurden. Es ist eine unheimlich gegenwärtige, bewegende Ausstellung über eine vielfältige, komplexe Kunstszene und die nicht minder komplexe Historie des Landes.

Die Ukraine, das unbekannte Land, das in aller Munde ist: Wann gab es schon einmal in einem großen Museum westlich der Oder eine Ausstellung, die sich nur mit der Kunstszene des Landes befasste? Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben sich angesichts der brandaktuellen Lage einen Ruck gegeben und nur ein Jahr nach Ausbruch des Krieges eine Sonderausstellung auf die Beine gestellt, die ihrem Titel absolut gerecht wird: Ukrainische Kunst 1912-2023 ist tatsächlich ein Kaleidoskop der Geschichten, des Landes und seiner Kunstszene, die sich immer wieder wandelnden Gegebenheiten anpassen musste. Die Frage, was ist die Ukraine, was macht sie aus?, zeigt sich als schwer zu beantworten: Die Ausstellung ist ein Hineinschauen in die sich im Wandel befindende Identität des Landes durch die Linse der Kunst. Die Ausstellung bietet also nicht den einen, thematischen Faden, an dem sie den Besucher durch ihre Räume führen kann. Fragmentarisch-bruchstückhaft zeigt sie Ausschnitte aus über hundert Jahren künstlerischen Schaffens, das unter politischer Einflussnahme sich in immer wieder anderen, eng gesteckten Rahmen entfalten musste.

Für Besucher ist das eine Herausforderung: Denn man begegnet nicht nur Künstlern, die hierzulande dem breiten Publikum absolut unbekannt sein dürften, sondern auch einer Landesgeschichte, die komplex und trotz der erhöhten Aufmerksamkeit medialer Berichterstattung zum Kriegsgeschehen immer noch ein blinder Fleck ist. Es wäre also durchaus ratsam, sich vor dem Besuch etwas mit der wandelhaften Geschichte des Landes vertraut zu machen. Zwar gibt der Vorraum der Ausstellung hier einen guten Überblick, doch muss man sich darauf einstellen, sehr viele Informationen auf einmal aufzunehmen – denn auch die zahlreichen ausgestellten Künstler werden in der Ausstellung ausführlich vorgestellt. Es gibt entsprechend nicht nur viel zum Schauen, sondern auch zum Lesen.

Oksana Pawlenko
Oksana Pawlenko

So unbekannt die Namen der Künstler erscheinen, so vertraut ist zumindest zum Teil die Bildsprache. Der Zeitraum der ausgestellten Werke umfasst zwar auch die Moderne und Avantgarde, doch ist nur wenig der Experimentierfreude jener Zeit zu sehen. In der 1930ern bildete sich bereits die Nationale Union der Künstler der Ukraine, die die künstlerische Sprache zum Zwecke des Aufbaus des Kommunismus vereinheitlichte. Eine freie künstlerische Arbeit war kaum möglich. Künstler, die sich außerhalb der akzeptierten Formsprache bewegten, wurden verunglimpft, hingerichtet und aus dem Kanon gestrichen (“Hingerichtete Renaissance”). Eine Künstlerin, die die Repressionen überlebte, war Oksana Pawlenko, von der gleich zu Beginn der Ausstellung Zeichnungen und Ölgemälde zu sehen sind. In ihren Werken werden überwiegend Bäuerinnen in der postrevolutionären Gesellschaft in der Formsprache des Sozialen Realismus abgebildet.

Wiktor Palmow
Wiktor Palmow

Eines der wenigen Beispiele avantgardistischer Ausdrucksweisen findet sich in den Bildern Wiktor Palmows (1888-1929), der als früh verstorbener die Zeit der Repressionen nicht mehr erlebte. Dessen Bild “Schichtwechsel” erinnert in der Figürlichkeit der abgebildeten Personen zwar durchaus auch an den Sozialen Realismus, gleichwohl sind sie aber herausgelöst von einer realistischen Darstellung ihrer Umgebung, es übernimmt dafür eine spielerisches Farbspiel, wie man es auch von den Dresdner Avantgardisten jener Zeit kennt. In “Für die Macht der Sowjets” findet man hingegen eine eindringliche, detaillierte Darstellung einer Leiche.

 

Marija Prymatschenko
Marija Prymatschenko

Ab den 1930er Jahres bis zur Unabhängigkeit der Ukraine suchten Künstler freien Ausdruck in dekorativer oder naiver Kunst, beispielsweise in den fantasievollen Stillleben von Kateryna Bilokur oder den Fabelwesen von Marija Prymatschenko. Dieser mit “Räume der Freiheit” überschriebene Abschnitt der Ausstellung ist der vielleicht farbenprächtigste. Zum Träumen regt auch Mawa Pesas großes Gemälde “Der Glückshügel” an, das im Auftrag der Kunstsammlungen für die Ausstellung geschaffen wurde: “Trotz der harten Realitäten des Lebens finde ich in meinen Träumen Kraft. Sie geben mir Hoffnung, Energie und Denkanstöße”, wird die Künstlerin auf der begleitenden Infotafel zitiert.

Die harte Realität wird indes in Kaleidoskop der Geschichte(n): Ukrainische Kunst 1912-2023 nicht ausgespart. Viele der abgebildeten Kunstwerke setzen sich mit Erinnerungskultur auseinander, den zahlreichen Entwicklungen der jüngeren Geschichte wie der Revolution der Würde von 2014 und dem Schrecken des russischen Angriffskriegs, der in den Collagen von Sasha Kurmaz eindringlich Ausdruck findet.

Kaleidoskop der Geschichte(n): Ukrainische Kunst 1912-2023 ist eine beeindruckend vielfältige und komplexe Ausstellung, die große Aufmerksamkeit erfordert. Die bewegte Geschichte eines Landes, eine große Bandbreite von Medien sowie weniger bekannte Künstler sind schwer in einem einzelnen Ausstellungsbesuch zu fassen. Schade, dass es in der Ausstellung kaum Sitzmöglichkeiten gibt, die es dem Besucher erlauben, zu verschnaufen und einzelne Arbeiten für sich wirken zu lassen. Auch sind die Exponate nicht zwingend chronologisch angeordnet. Diese fehlende Linearität macht es nicht unbedingt einfacher, dieser hundertjährigen Reise durch die Kunst zu folgen. Dennoch: Die Ausstellung leistet hier wichtige Arbeit (auch konservatorischer Natur) und bietet einen allemal lohnenden Einblick in die zeitgenössische Kunstszene der Ukraine.

Beitragsbild: Modell mit Blumen (2019), Maria Kulikovska

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Kaleidoskop der Geschichte(n): Ukrainische Kunst 1912-2023 ist bis zum 10.09.2023 zu sehen.

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