Edin ist jung und schon kaputt: In der Lagerlogistik hat er sich Anfang 20 den Rücken ruiniert. Er hält nicht mehr mit, wird entlassen. Seine Freundin steigt weiter auf, eine Einheit bilden sie nur noch in der virtuellen Welt eines Computerspiels. Atemhaut erzählt von einem Leben, das den Halt zu verlieren droht. Iris Blauensteiner macht Edin zum Avatar des Lesers, ein formaler Kniff, der über die Seiten des Buches reicht – ein immersiver Lesegenuss, der zeigt, was Literatur alles kann.
Transformationen: Search History von Eugene Lim
Die transformative Kraft künstlerischen Schaffens ist eines der Themen, das in Eugene Lims metafiktionalen, wild imaginiertem Roman Search History eingeflochten ist. Dreh- und Angelpunkt ist aber Frank Exit, der im Roman selbst gar nicht vorkommt, da er gestorben ist. Oder wurde er als Hund reinkarniert? Das glaubt zumindest eine seiner Freundinnen, der der Leser zusammen mit einigen anderen Figuren begegnet. Es ist ein eigensinniger, unterhaltsamer, aufregender wie kluger Roman, der zu mehrmaligem Lesen einlädt.
Gesellschaft unvereinbarer Wirklichkeiten: Connect von Thea Mengeler
Welch Wunderwerk der Buchdruckkunst: Thea Mengelers Romandebüt Connect strahlt und funkelt, auf schwarzem Grund sind silbern reflektierende Punkte eingelassen, sie formen einen Halbkreis, dazwischen in leuchtend gelb der Titel. Die Gestaltung spiegelt den Inhalt: Mengeler erzählt von Ava, die, unzufrieden mit ihrem Leben, in die Sekte Connect gerät, in der Hoffnung, sich selbst in kommunaler Verbindung zu anderen Menschen zu finden.
Sinfonie des Schreckens: Die Jagd von Sasha Filipenko
Fiktion oder Wahrsagung? In Sasha Filipenkos aktuellem Roman Die Jagd begegnen dem Leser Umstände, die mit Russlands Einmarsch in die Ukraine schreckliche Realität geworden sind. Die Jagd ist aber nicht schon jetzt einer der interessantesten Romane des Jahres allein wegen des Inhalts, sprich der verblüffenden Nähe dieser Fiktion zur aktuellen geopolitischen Situation, sondern vor allem wegen seiner cleveren, bei allem Schrecken trotzdem unterhaltsamen Konstruktion.
Ein zögernder Ausbruch: Aus einer Zeit von Maximilian Zech
Matthias’ Leben ist schal geworden: Seit dem Studium hat sich der in einer Privatklinik arbeitende Arzt kaum verändert. Der Arbeitsalltag gleitet in ruhige Abende auf der Couch und immer so weiter. Pflichtgefühl und eine nicht verwundene Beziehung halten ihn fest, bis er, zaghaft, einen Ausbruch wagt. Aus der Zeit ist ein ruhig erzählter Roman über ein verschlafenes Leben, der beiläufig die Brüche dieses Landes streift.
“Doch das Wünschen hilft nicht”: Supermilch von Philipp Böhm
Der Verbrecher Verlag hat vor drei Jahren eine neue Serie gestartet: Jedes Jahr wird ein Erzählband verlegt. Das kurze form Programm bekommt mit Philipp Böhms Supermilch seinen stärksten Eintrag: Erzählt in einer im Werden befindlichen Zukunft lassen die temporeichen Texte die Keime der Gegenwart zu nicht immer schönen Blüten wachsen.
Ein unheimliches Rauschen: Die rote Pyramide von Vladimir Sorokin
Manche Bücher kommen zur rechten Zeit; und so schlug ich Vladimir Sorokins neuen Erzählband Die rote Pyramide auf, als die Kulisse an der Ukraine immer bedrohlicher wurde. Nun, nachdem der Schrecken in der Realität angekommen ist, klingen diese Erzählungen, viele davon von einem mal mehr, mal weniger greifbaren Gefühl des Unheils heimgesucht, noch eindringlicher nach.
Literarisches Mixtape: Die Musik auf den Dächern von Selim Özdogan
In welcher Gattung spielt Die Musik auf den Dächern, die uns Selim Öszdogan uns hier als Erzählband präsentiert? Es ist nicht alles Fiktion: Klassische Kurzgeschichten treffen auf Essayistisches und Autobiografisches. Es ist also mehr Mixtape als Symphonie, der Wechsel ist bemerkenswerter als die Einzelstücke.
Das verschwommene Kind: Wenn ich euch verraten könnte von Lea Draeger
Ein dreizehnjähriges Mädchen hungert sich zum Herzstillstand und landet in der Klinik. Dort greift sie zu einem Schreibblock und beginnt, die Familiengeschichte aufzuschreiben, vom tschechischen Urgroßvater bis zu ihren inzwischen getrennt lebenden Eltern. Lea Draegers Wenn ich euch verraten könnte ist ein atmosphärisch dicht erzählter Roman, der leider an seiner Erzählsituation krankt.
Nintendo Dance: Love Of Plastic von Shinichi Atobe
Von relativer Obskurität zu ungeahnter Produktivität: Als das Produzentenduo Demdike Stare 2014 Archivmaterial des japanischen Produzenten veröffentlichte, hatte der seit seiner ersten EP für die Dub Techno Legende Chain Reaction nichts veröffentlicht. Seitdem kommt jedes Jahr eine neue Veröffentlichung. Die neue LP Love of Plastic kommt in kristallblauem “Ocean Blue” daher – eine ironische Wahl ob des Titels – und klingt entsprechend: Beschwingt, unaufdringlich, tanzbar und im Gegensatz zum früheren Archivmaterial klar und frisch.