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Herzensbildung in herzlosen Zeiten: Die karierten Mädchen von Alexa Hennig von Lange

Die karierten MädchenAlexa Hennig von Langes neuer Roman Die karierten Mädchen ist ein Text des Erinnerns: Er erzählt vom Schrecken des Nationalsozialismus abseits der Front und der eigenen Familiengeschichte. Die Hauptfigur des Romans, Klara, ist an der Großmutter der Autorin angelehnt. Die besprach im hohen Alter Kassetten mit ihren Lebenserinnerungen. Die Autorin scheute lang, diesen Fundus aus über 130 Kassetten anzuhören. Gut, dass sie es schließlich getan hat.

“Aus heutiger Sicht fällt es noch schwer nachzuvollziehen, was in jener Zeit [des Nationalsozialismus] in Deutschland geschah, und doch sind diejenigen, die zu jener Zeit gelebt haben, die eigenen Großeltern. Mein Buch ist der Versuch, mit meiner Oma über diese zutiefst verstörende Wahrheit in ein Gespräch zu kommen”, schreibt Alexa Hennig von Lange im Nachwort zu Die karierten Mädchen.

Die biografischen Eckdaten der Großmutter sind gewissermaßen der Rahmen, den Hennig von Lange (hier im Interview) mit Literatur füllt. Der Leser begegnet Klara, als sie etwas Waghalsiges unternimmt: Im hohen Alter von 93 und inzwischen blind versucht sie, allein in den Garten ihres norddeutschen Reihenhäuschens zu gehen. Aus dem “nicht ganz ungefährlichen” Ausflug wird nichts, denn drinnen klingelt das Telefon und alsbald steht eine ihrer Töchter vor der Tür. Die war eher zufällig in der Gegend und erzählt von der Enkeltochter, die Anfang 20 schwanger geworden ist und das Kind wohl allein großziehen wird. Das triggert eine Erinnerung in der betagten Frau an ihr jüngeres Ich – ebenfalls eine junge Frau, die ihren eigenen Weg ging und die eine Geschichte zu erzählen hat, von der niemand, der noch lebt, etwas weiß.

Im Alter von 21 beginnt Klara als Lehrerin in der Kinderheilstätte Oranienbaum zu arbeiten. Sie hat Glück gehabt: Die Weltwirtschaftskrise verschärft sich immer weiter. Arbeits- und Perspektivlosigkeit grassieren, sie muss ihre Familie im Harz finanziell unterstützen. Die karierten Mädchen erzählt überwiegend von den 1930er Jahren bis kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wie aus eine wirtschaftlichen Krise der Wahnsinn wächst. Die Weimarer Republik zerfällt soeben, die Nationalsozialisten ergreifen die Macht und Schritt für Schritt das ganze Land.

Sie hatte nur auf ihrer kleinen Insel im Wald ein sozial engagiertes Leben mit geregelter staatlicher Unterstützung führen wollen. Doch mit einem Mal war ihr sehr kalt (172).
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Sie alle passten sich an, machten heimlich ihre kleinen Witze oder schimpften, wenn niemand zuhörte (254).

Das geregelte Leben, das sich Klara wünscht, stellt sich nie so richtig ein: Sie ist noch nicht lange in ihrer Anstellung, als das einjährige Mädchen Tolla in ihr Leben tritt. Sie sollte nur zeitweise in die Obhut des Heims kommen, doch ihre Mutter holt sie nie zurück. Das einjährige Mädchen sieht Klara mit ihren Sommersprossen und roten Haaren wie aus dem Gesicht geschnitten aus. Sie wird zur Ziehmutter und riskiert dafür ihre Karriere: Denn die Heimleiterin, inzwischen kränklich, ist sehr aufs ohnehin knappe Budget in diesen krisenhaften Zeiten bedacht. Das Problem, so scheint es, löst sich von selbst, als die Oberin stirbt und Klara ihre Position einnimmt.

Doch damit beginnen die Schwierigkeiten erst: Zwischenzeitlich hat sich der Nationalsozialismus festgesetzt und um das Heim weiter betreiben zu können, ist Klara wohl oder übel auf diese Regierung bestehend aus “furchtbaren Menschen mit entsetzlichen Ansichten” (204) zur Finanzierung des Heims angewiesen. Damit begibt sie sich selbst in Gefahr: Tolla ist jüdisch.

Die karierten Mädchen ist ein nuanciert erzählter Text, der soziales Engagement und das Bedürfnis nach Sicherheit in der Protagonistin behutsam auslotet. Während die biografischen Stationen dem Leben der Großmutter folgen, ist das jüdische Mädchen hinzugedichtet. Sie wird zum Dreh- und Angelpunkt der Dramaturgie des Textes, ist gleichwohl mehr als ein Instrument des Plots. Sie dient auch dazu, die moralischen Aspekte der Zeit, welche Hennig von Langes Großmutter auf den Kassetten wohl aussparte, in den Fokus zu rücken. Und vielleicht will die Autorin ihrer Großmutter zumindest auf dem Papier nochmal nah sein: Wie Tolla hat auch die Autorin rotes Haar und Sommersprossen.

Der Text alterniert zwischen dem Moment des Erinnerns und den Erinnerungen selbst. Die Autorin staffiert den Text mit aus der Mode gekommenen Formulierungen aus (“Diese Hermine schien ein putziges Haus zu sein” [237]) und macht eine vergangene aber immer noch wirkende Zeit – Antisemitismus ist längst nicht Geschichte in diesem Land – lebendig, aus einer Perspektive, die in der Vielzahl der Bücher zum Dritten Reich bisher nur wenig Raum einnimmt.

Das Einfühlungsvermögen für ihre Figuren war immer eine große Stärke der Autorin und die Nähe zur eigenen Familiengeschichte lässt sie hier in Bestform erscheinen. Hier reisen wir in diese Zeit als Gast einer Frau, die ganz und gar von ihrer Zeit ist, ohne es gänzlich zu sein: Klara ist die fürsorgende Frau, die Mädchen in häuslichen Dingen bildet. Auf das im weitesten Sinne Häusliche fokussiert, ist Klara eine Frau, die sich für Politik nicht interessiert. Von den Entwicklungen um sie herum erfährt sie eher durch andere Menschen. Oder wenn diese sie direkt betreffen. Gleichwohl ist sie eine Frau mit Karriere, die sie nicht für die Rolle als Hausfrau und Mutter aufgeben möchte. Auch nicht für ihre moralischen Überzeugungen. Klara ist also gewissermaßen zwiegespalten: Sie ist nicht frei von Opportunismus, aber auch nicht ohne Herz. Sie verabscheut die antisemitische Ideologie der Nationalsozialisten, stellt sich mit diesen aber gut, um ihre Sicherheit zu wahren. Kaum auszuhalten wird dieser Spagat, wenn es schließlich um die Frage geht, was aus ihrem geliebten Ziehkind Tolla wird, sobald die Synagogen brennen.

Die karierten Mädchen ist eine der stärksten Einträge in Alexa Hennig von Langes Bibliografie. Es ist erst die zweite Auseinandersetzung mit einem historischen Stoff, für den sie sich von der ihr präferierten Erzählperspektive der ersten Person Präsens erneut verabschiedet und im Vergleich zu ihrer gelungenen Erzählung Die Wahnsinnige über Johanna von Kastilien nochmals einen Schritt nach vorne macht. Die karierten Mädchen ist ein gut recherchierter und geschriebener Text, der nicht nur ein stimmiges Portrait einer Einzelfigur ist, sondern auch wunderbar zeigt, wie eine frustrierte Gesellschaft in den Wahnsinn gleiten kann.

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Die karierten Mädchen ist bei Dumot erschienen.

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