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Zweiter Frühling: Strandgut von Benjamin Myers

Strandgut von Benjamin MyersBuckys siebzigjährige Knochen schmerzen. So sehr, dass er von Opiaten abhängig ist. Die goldene Stunde, in der er genug Pillen intus hat, in der mal alles gut erscheint, ist scheinbar alles, was ihm im Leben noch bleibt. Vor einem Jahr hat er seine Frau an Krebs verloren. Doch solange man lebt, öffnet das Leben immer wieder neue Türen. Man muss nur hindurchgehen. Und genau das macht Bucky in Benjamin Myers’ neuem Roman Strandgut: Er wurde ins englische Scarborough eingeladen, um zu singen.

Klingt fast so, als wäre Bucky ein Star: Im fernen England lädt man ihn zu einem Soul-Weekender ein, damit er alte Hits performt. Doch die goldenen Zeiten sind nur eine ferne Erinnerung für Bucky. Der hatte vor vielen Jahrzehnten vier Songs aufgenommen, einer davon war tatsächlich ein Hit. Viel Geld hat er dafür nicht gesehen. Ein paar Dollar für die Aufnahmen, mehr nicht. Während er in seiner Heimat Chicago ein Vergessener ist, hängt man dieser Stimme des Northern Soul in England noch nach.

Die Aussicht auf 5.000 Dollar sowie Spesen lässt Bucky die Einladung annehmen, auch wenn er es nicht so recht glauben kann. Dort wird ihm vom Veranstalter Dinah an die Seite gestellt – sie liebt seinen Song „Until the Wheels Come Off“. Abgesehen von der Liebe zum Soul eint die beiden aber auch der Umstand, dass ihre Leben in Sackgassen geraten sind. Dinah hat einen Mann, der saufend durch die Nacht zieht, und einen Sohn, der mit Anfang 20 noch zu Hause lebt und außer Kiffen und Computerspielen absolut nichts mit seinem Leben anstellt. Dinah hält die Familie am Laufen – kümmert sich ums Geld, den Haushalt, das Essen. Dank bekommt sie nicht.

Da ist Bucky ein Lichtblick in ihrem grauen Alltag, die Musik ihr Eskapismus. Buckys Eskapismus nach England läuft unterdessen zwischen skurrilem Kulturschock und Entzugserscheinungen suboptimal. Im Flugzeug hat er seine Tabletten vergessen und ist nun neben der Spur, dröhnt sich mit allem zu, was ihm zwischen die Finger kommt. Wird er es zu seinem großen Comeback-Auftritt schaffen?

Strandgut ist, wie man es von Myers inzwischen gewohnt ist, ein schmissig erzählter Roman über Außenseiterfiguren, die sich nach etwas Licht in ihrem eingegrauten Leben sehnen. Es ist ein chaotisches Wochenende voller Missverständnisse, Ausfälle und melancholischer Rückblenden, die in Buckys bewegte Geschichte voller Enttäuschungen und Widrigkeiten tauchen (Bucky ist, wie im Text erst recht spät deutlich wird, ein Afro-Amerikaner). Das Leben hat die Eigenart, einem hin und wieder einen Stock zwischen die Speichen zu hauen. Die Frage ist eben, ob man es wagt, sich den Schmutz abzuklopfen und weiterzulaufen.
Ein unterhaltsamer Roman mit Soul.

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Strandgut ist bei Dumot erschienen.

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