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Selbstbestimmt oder verrückt? Die Wahnsinnige von Alexa Hennig von Lange

Die Wahnsinnige von Alexa Hennig von LangeAlexa Hennig von Langes neuer Roman Die Wahnsinnige beleuchtet das Leben einer Königin ohne Macht: Johanna von Kastiliens impulsiver Drang nach Selbstbestimmung kollidierte mit den Machtstrukturen ihrer Gesellschaft und brachte ihr den Beinamen “die Wahnsinnige” ein. Mehr als an der Schilderung historischer Fakten ist Alexa Hennig von Lange an der zeitgemäßen Frage interessiert, wie viel Selbstbestimmung eigentlich möglich ist.

Die Wahnsinnige öffnet mit einem Brief Johannas an ihre Tochter. Die Königin von Kastilien und León und Aragón und den westindischen Inseln und des Festlands am Ozean wird da bereits seit Jahrzehnten gefangen gehalten und gefoltert, weil man sie für wahnsinnig hält – von ihrem eigenen Sohn, der statt ihrer die Geschicke des die halbe Welt umspannenden Königreichs führt. Damit beginnt die Erzählung mit ihrem traurigen Schlusspunkt. Das erste Kapitel springt zurück zu Johannas Ankunft in Medina del Campo, wohin sie ihre Mutter, Isabella die Katholische, schickte, um die widerspenstige Tochter unter Kontrolle zu bekommen. Es bietet sich das apokalyptische Bild eines eingegrenzten Lebens:

Sie sah hinauf in den Himmel aus rußigem Schwarz. Im Namen der katholischen Kirche ließ ihre Mutter Ungläubige auf Scheiterhaufen verbrennen und beraubte damit das gesamte Firmament des Lichtes. Diese Düsternis lag seit Johannas Geburt über dem Land – schwer und niederdrückend. Hoffnungslos und krank. Sie alle atmeten den Tod ein (9).

Eine beklemmende Atmosphäre hängt über ihrem Leben: Seit über einem Jahr hat sie ihren Mann, Ferdinand den Schönen, mit dem sie aus machtpolitischen Kalkül verheiratet wurde, nicht gesehen. Er weilt mit den zwei älteren Kindern in Flandern. Johanna ist mit dem jüngsten Kind in Spanien geblieben und ihrer Mutter ausgeliefert. Sie will aber weg, zu ihrem Mann, der durchaus mitverantwortlich von dem sich verfestigenden Rufs als Wahnsinnige ist. Auch wenn die Ehe von ihren Eltern zum Zwecke der Machterhaltung geschlossen wurde, liebt sie ihn – ihr Leben vor ihm betrachtet sie als “ein heimatloses Fragment” (49).

Medina del Campo soll also nur eine Zwischenstation sein – sie möchte mit aller Macht zu ihrem Mann und ihren Kindern, sich damit auch dem Einfluss der übermächtigen Mutter entwinden. Die hat Augen und Ohren überall. Johanna entspricht nicht dem Bild, dem sie als zukünftige Herrscherin entsprechen soll. Die Inquisition lehnt sie ab. Sie ist zwar Gläubige, steht aber mit der katholischen Ausübung dieses Glaubens im Konflikt. Johanna ist eine Frau, die anderen Menschen ausgeliefert ist. Sie ist eine mächtige Frau ohne Macht, sie selbst sein zu dürfen.

Alexa Hennig von Lange begleitet Johanna die Wahnsinnige drei Jahre lang und imaginiert sie als in ihrer Zeit unkonventionelle Frau, die nicht frei von Widersprüchen ist. Die Krone ist ein Schicksal, dem sie sich irgendwie fügen muss. Zwar hadert sie mit ihrem Machtanspruch – hin und her gerissen zwischen sich Fügen und Reformieren -, tritt aber durchaus herrisch gegenüber Untergebenen auf. Auch das Verhältnis zur Mutter und den eigenen Kindern ist ein inneres Tauziehen. Ihr Drang nach Selbstentfaltung steht im Konflikt mit ihrer Rolle als Mutter – sie zaudert zwischen Nähe und Distanz zu den Kindern, die sie teilweise über Jahre nicht sieht. Während der Konflikt zur Mutter und dem Muttersein vor allem im ersten Teil des Romans eine prominente Rolle spielt, verlagert sich die Erzählung dann zum spannungsgeladenen Verhältnis zu Ferdinand dem Schönen. Hier begegnen wir einem Thema, das Hennig von Lange schon seit ihrem Debütroman Relax beschäftigt – der Frage, ob sich Mann und Frau in Beziehungen auf Augenhöhe begegnen können. Johannas Ehe zu Ferdinand dem Schönen ist voller Leidenschaft und Eifersucht: Sie schafft es nicht, sich als Frau dem Mann zu fügen. Verletzt durch dessen Affären verfällt sie regelmäßig Tobsuchtsanfällen, die ihr ihren Beinamen einbringen und letztlich ihren Machtanspruch in Gefahr bringen sollen.

“Hoheit, so ist die Welt. Niemand ist frei” (60)

Die Wahnsinnige zeigt, dass Wahnsinn immer relativ zu begreifen ist. Ist das Zeigen von Eifersucht ein Fall von Wahnsinn? In der Gesellschaft, in der sich Johanna bewegt, scheinbar schon. Selbiges gilt für ihre individuellen Vorstellungen für die Macht, die sie bekommen soll. Der Roman lotet aus, wie frei wir in unserer Selbstentfaltung wirklich sein können. Die Grenzen, die Johannas Gesellschaft ihr setzen, sind freilich andere als sie dem Individuum heute begegnen. Die Frage bleibt dennoch aktuell – wie individuell kann man sein, ohne sich zu isolieren?

Die Wahnsinnige ist nur vordergründig ein historischer Roman. Alexa Hennig von Lange fokussiert sich hier ganz auf ihre Hauptfigur, um über die Zeit reichende Fragen zu stellen. Der Roman ist erfrischend unbemüht, sich den Ausdrucksformen der damaligen Zeit zu nähern, um das Heutige aus der Erzählung zu schälen. Die Wahnsinnige ist ein flüssig erzählter Text über Freiheit und Individualität, der gewissermaßen nebenbei viel von einem längst zerfallenen Imperium erzählt. Gelungen.

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Die Wahnsinnige ist bei Dumont erschienen. 

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