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Queer durch die Republik: Rauchzeichen für Rio von Micha Riegel

Rauchzeichen für Rio von Micha RiegelRauchzeichen für Rio von Micha Riegel ist wie viele Debüts ein klassischer Coming of Age Roman, der uns in die 1990er Jahre entführt. Samu ist 16 und in seinem Heimatdorf im ländlichen Bayern unweit Würzburgs nicht gerade beliebt. Er ist anders, seine Homosexualität gewissermaßen ein offenes Geheimnis. Als ihn Max, der jüngste Spross des Bürgermeisters, unverhofft küsst, gerät die konservative Provinzidylle in Schieflage – und Samu muss um sein Leben fürchten. Er verlässt das Dorf in Richtung Frankfurt, wo es ihn, Schockverliebt in Lenni, aber nicht lange hält.

Lenni lebt auf der Straße, ist in Drogengeschäfte verwickelt. Samu, etwas naiv und mit rosaroter Brille, will ihm nahe sein, seitdem sich beide in der Fußgängerzone begegneten. Samu ist selbst ziemlich mittellos: Nachdem er sein Dorf überstürzt verlassen musste, ist er in der Gartenlaube seines Onkels untergekommen, bei dem er im Herbst eine Lehre in einer Werkstatt aufnehmen soll. Um etwas Geld zu verdienen, macht er auf Straßenmusiker. Besonders angetan haben es ihm die Lieder von Ton Steine Scherben – die Texte Rio Reisers resonieren in ihm. Lenni geht es scheinbar nicht anders: Als er Samu unbeholfen in der Fußgängerzone an seiner Gitarre zupfen sieht, ergreift er das Instrument und lässt Samu einfach singen. So plötzlich, wie der Junge in Samus Leben auftaucht, verschwindet er vorerst wieder. Seine Spur führt ins Drogenmilieu, wo es Lenni so langsam an den Kragen gehen soll. Er muss weg – Samu geht kurzentschlossen mit. Ihr Ziel: Ostfriesland, um Rio Reiser zu besuchen.

Rauchzeichen für Rio ist ein klassischer Coming of Age Roman, in dem ein unschuldiger Heranwachsender seine Familie verlässt, um in der Welt Erfahrungen zu sammeln. Micha Riegel inszeniert die innere Reise seines Protagonisten als äußere Reise quer durch Deutschland hin zu einer Ikone der Linken, die als einer der wenigen schwulen Musikstars der BRD nie so richtig zur Ikone der Schwulenszene wurde. Der 1996 verstorbene Sänger und Songschreiber wird reichhaltig in Rauchzeichen für Rio zitiert, die Außenseiterrolle, die Ablehnung des spießbürgerlich, kapitalistisch geprägten BRD-Konsens passt wunderbar zu den beiden Jungs, die ebenfalls außerhalb der Gesellschaft leben, wie Vagabunden durchs Land per Anhalter ziehen, sich mit Punks und Aktivisten entlang des Weges anfreunden. Erzählt wird der Text rückblickend aus der ersten Person von Samu, der dem Leser umgangssprachlich mit Verve von diesem wahrscheinlich wichtigsten Sommer erzählt. Absolut lesenswert!

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Rauchzeichen für Rio von Micha Riegel ist beim Albino Verlag erschienen.

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