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I Never Know How Old I Was von David Joseph

I Never Know How Old I WasSchlicht, alltäglich, flüchtig: Die Geschichten in David Josephs drittem Erzählband I Never Know How Old I Was erkunden zwischenmenschliche Beziehungen über alle Etappen gelebten und gefühlten Alters hinweg, ohne jemals Zeit zu schinden. Schnörkellos und ruhig, geradlinig und selten pointiert erscheinen die Erzählungen auf den ersten Blick unscheinbar, ziehen die Leser jedoch mühelos in ihren Bann.

Der etwas seltsame, aber einnehmende Onkel, der außerhalb der Stadt lebt und viel zu junge Freundinnen hat; ein Pizzabote, der zum Room Service eines Hotels wird und dort der Vertraute einer Prostituierten; der junge Mann, der beim jährlichen Thanksgiving-Besuch ständig mit Fragen zu seinem Privatleben gelöchert wird; ein Vater, der seinen Glanz verliert, als die Fabrik schließt; oder die Tante, die gar keine ist und einem jungen Mann ein besonderes Geburtstagsgeschenk macht: Josephs Erzählungen sind selten länger als zehn Seiten. Oft berichten Ich-Erzähler aus der Erinnerung über persönlich bedeutsame Menschen ihres Lebens, die überwiegend im Alltag der amerikanischen Mittelschicht verwurzelt sind. Die Begegnung mit einer Prostituierten oder eine geheime Falltür im Kinderzimmer einer Jugendfreundin – viel außergewöhnlicher wird es nicht. Auf den ersten Blick mag das fast langweilig wirken, da die sprachliche Präsentation auf jegliches Lametta verzichtet. Doch in diesen Geschichten liegt eine Kraft, der man sich nur schwer entziehen kann.

In einem Vorwort zieht der Autor einen inhaltlichen Faden, dem man zum Genuss dieser Stories nicht zwingend folgen muss: Das Alter unseres Körpers entspricht nicht dem unseres Geistes oder unserer Seele. Erfahrungen sind wertvoll, aber sie können uns Jahre unseres Lebens nehmen – oder schenken. Mit diesem Rahmen bekommen die Erzählungen, die sich in ihrer Kürze stets auf ihren Gegenstand konzentrieren, ihr Gewicht. Die Geschichten verzichten überwiegend auf Pointen oder offene Fragen. Wenn sie den Leser doch einmal mit einer Frage zurücklassen, dann mit Effekt. Die Pointen sind der Gegenstand der jeweiligen Erzählung selbst – Momente oder Beziehungen, die die Ich-Erzähler gewissermaßen „altern“.

„So Far from Town When Everyone Else Lived Close“ beschreibt den ungewöhnlichen Onkel aus der Sicht seines Neffen. Was ihn besonders macht, sind sein abgelegener Wohnort sowie seine stets jüngeren Partnerinnen. Der Onkel ist dem Neffen überaus sympathisch – doch die Mutter sorgt bei einem BBQ für einen Eklat. Es kommt zum Bruch. Jahre später ist die Mutter tot, und der Neffe besucht den Onkel erneut. Dabei erhält er eine Einsicht in das, was ein ehrliches Leben bedeuten könnte. In “Parking Cars” erzählt ein junger Mann von seinem besten und, wie sich zeigt, auf unsympathische Art gewieften Kumpel. Er hat einen Job im Parkservice eines Golf Clubs aufgetan, erhebt sich aber schnell über das sonst Afro-Amerikanische Personal, um eine eigene Agenda zu verfolgen. In “Crazy Eddie” geht es nur vordergründig um einen Obdachlosen, tatsächlich aber um die Beziehung des Erzählers zu seiner Freundin und seinem besten Freund. In “Only a Ten-Minute Walk from Here” zeigt die Business Party der Freundin, dass man vielleicht nicht mehr im selben Alter lebt – oder die gleichen Werte teilt.

Die komplexen, individuellen Geflechte zwischenmenschlicher Beziehungen sind auf der Textoberfläche kaum präsent. Doch die Erzählungen in I Never Know How Old I Was tragen eine Unterströmung in sich, die die individuellen Motivationen der Figuren offenlegt. Nicht jede Geschichte bleibt ob der inhaltlichen Schlichtheit hängen, manchmal wünscht man sich einen Überraschungsmoment – dennoch: I Never Know How Old I Was ist ein überzeugender Erzählband.

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I Never Know How Old I Was von David Joseph ist bei Portal 6 Press erschienen.

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