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Das Buch der Schwestern von Amélie Nothomb

Das Buch der Schwestern von Amélie NothombDas Schicksal zweier Schwestern erzählt in 150 Seiten: Dieses Kunststück gelingt der belgischen Autorin Amélie Nothomb mit ihrem aktuellen Roman Das Buch der Schwestern. Tristiane wird in eine liebevolle Ehe hineingeboren. Doch die Liebe der Eltern ist so intensiv, dass eigentlich kein Platz für ein Kind ist: Eine andere Art der Verwahrlosung, könnte man sagen. Doch Tristiane ist hochbegabt, und als die Eltern auf ihren Wunsch hin noch ein Töchterchen in die Welt setzen, erfährt auch sie, was Liebe ist.

“Eltern die sich so sehr lieben, dass das Kind fürchtet, sie zu stören” (S 41): Schon früh merkt Tristiane, dass sie auf der Prioritätenliste der Eltern nicht ganz oben steht, sie funktionieren muss. Alles ändert sich durch die Geburt von Laetitia, die die erst fünfjährige Tristiane praktisch großzieht – schließlich war das Geschwister auch ihr Wunsch! Warum, also, sollte sich ihre Mutter Nora die Arbeit machen? Ein unheimlich starker Bund entsteht zwischen den beiden Schwestern. Man kann sagen: Den Eltern zum Trotz entwickeln sich die beiden zu aufgeweckten, intelligenten jungen Frauen.

Wie es anders laufen kann, sieht man am Beispiel der Tante Bobette. Das Verhältnis zwischen Nora und Bobette ist distanziert, um nicht zu sagen abschätzig. Nora ist in glücklicher Ehe im Mittelstand, während ihre Schwester im sozialen Brennpunkt mit vier Kindern und ohne Arbeit lebt. Sie hätte eine Schwester wie Tristiane gut gebrauchen können. Doch soziale Bindungen abseits des Ehemanns scheinen Nora eher lästig. Tristiane ist so reif für ihr Alter, dass sie sogar Patin der jüngsten Nichte, Cosette, wird. Bobettes drei ältere Jungs geraten auf die schiefe Bahn. Und auch Cosette wird es nicht leicht haben.

Amélie Nothomb erzählt die Lebensgeschichten der zwei Schwestern mit äußerster Ökonomie, ohne elliptisch zu werden. Für manche Wendung braucht es nur einen Hauptsatz. Das ist die große Stärke der Belgierin: Sie malt Welten mit nur wenigen Pinselstrichen, erzählt Dramatisches ohne Melodram, trifft ins Herz, ohne rührselig zu werden. Sie ist einfach eine wunderbare Erzählerin, die Roman um Roman abliefert. Zwar ist sie kein stilistisches Chamäleon und auch Das Buch der Schwestern trumpft nicht mit den großen Überraschungen auf, aber es ist ein magnetischer Text, den man nur schwer wieder aus der Hand legen kann.

Ein Roman über die Widrigkeiten des Lebens – und wie man sie überwinden kann.

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Das Buch der Schwestern ist bei Diogenes erschienen.

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