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Kerker ohne Wände: Der Schatten einer offenen Tür von Sasha Filipenko

Der Schatten einer offenen Tür von Sasha FilipenkoSasha Filipenko exerziert weiter das russische Gemüt. Nachdem der Belarusse mit Die Jagd einen satirischen Thriller veröffentlichte, ist Der Schatten einer offenen Tür eine neue Genreübung. Der Roman ist eine Kriminalgeschichte, zwar weniger temporeich erzählt als Die Jagd, aber nicht ungleich unterhaltsamer oder erschreckender. Die Erzählung haftet sich an den Moskauer Kommissar Koslow, der im tristen Provinznest Ostrog eine Reihe Selbstmorde von Heimkindern untersuchen soll. Das Elend, so suggeriert es der Text, lässt sich besser aushalten, wenn man das Schöne gar nicht erst kennt.

Wer Sasha Filipenkos Literatur kennt, weiß, dass in seinem Russland Recht nicht unbedingt mit Gerechtigkeit zu verwechseln ist. Und man kann sich täuschen, wenn man die ambivalente Figur des Bürgermeisters Baumann zu Beginn des Romans als Bösewicht identifiziert. Schließlich war er schon im Gefängnis! Aber er wäre sicher nicht der erste Kriminelle in Amt und Würden. Dass man ihn negativ wahrnimmt, liegt zuallererst an Petja, dem Sonderling der Stadt. Er ist ein sensibler junger Mann, der wie der Bürgermeister einst im Waisenhaus der Stadt aufwuchs und sich nun völlig allein gegen die Abholzung eines toten Waldes zugunsten einer neuen Fabrik zu wehren versucht. Baumann ist Bauherr.

Tote Wälder, Fabriken, Waisen – das Setting ist trist. Das Waisenhaus ist ein “Kerker ohne Wände” (47), Ostrog “eine Stadt wie eine Sackgasse” (86). Nach Petjas fruchtlosen Protestversuchen macht der Roman einen Zeitsprung. Der Bürgermeister ist wieder zurück im Knast. Warum genau, wird nicht weiter ausgeführt. In Moskau war er wohl unbeliebt. Für seine Inhaftierung verantwortlich war Koslow, der nun erneut nach Ostrog reist, um eine Reihe Suizide zu untersuchen. Da es sich ausschließlich um Jugendliche aus dem Heim handelt, beschäftigt das Thema die Medien, die hier genauso zynisch wie der Staat selbst erscheinen. Ein Schuldiger muss her. Petja gerät ins Visier der örtlichen Polizei, deren Methoden freilich rabiat sind. Koslow, selbst in einer privaten Krise, taucht ein in den mysteriösen Fall der sich selbst tötenden Teenager, deren Lebensbedingung zwar schlecht sind. Nur: Warum gerade jetzt?

Der Schatten einer offenen Tür ist, wie man es von Sasha Filipenko kennt, ein zugleich amüsant wie befremdlich zu lesender Text und der den Leser durchaus mit einer gewissen Ohnmacht zurücklässt. Es ist darüber hinaus ein äußerst originell erzählter Krimi mit besonders bitterer Pointe. Absolut lesenswert!

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Der Schatten einer offenen Tür von Sasha Filipenko ist bei Diogenes erschienen.

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