Verena Keßlers Romandebüt Die Gespenster von Demmin schaffte es auf meine Bestenliste im Jahr 2020. Ihr zweiter Roman Eva steht dem Debüt qualitativ in nichts nach. Es ist ein sehr gegenwärtiger Text geworden, in dem die Autorin die Themen Klimakrise und Kinderwunsch gekonnt miteinander verschränkt. Keine Frage: Mit der Wahl-Leipzigerin wird in Zukunft noch zu rechnen sein.
Sina ist Anfang 30 und Journalistin. Auf der ersten Seite dieses Romans sitzt sie der Lehrerin Eva Lohaus gegenüber. Diese hat ein Essay geschrieben, das extrem kontrovers aufgenommen wurde. Ihre These: Die Klimakatastrophe lässt sich nur abwenden, wenn die Menschen darauf verzichten, weiterhin Kinder zu bekommen. Die Weltbevölkerung belief sich Mitte des 20. Jahrhunderts auf 2,7 Milliarden. Bald sind es 8 Milliarden. Die nachwachsenden Ressourcen dieses Planeten reichen eigentlich schon heute nicht mehr. Wir saugen diesen Planeten aus. Es ist eine schlüssige These, die letztlich – auch das sind die heutigen Zeiten – rein emotional auf ihr Empörungspotenzial hin diskutiert wird.
Das Interview, das Sina mit Eva Lohaus führt und veröffentlicht, lässt die Wellen noch höher schlagen, weil Letztere einen Hund mit zum Interview bringt. ist sie nicht etwas scheinheilig? Sina wird später ein schlechtes Gewissen plagen. Doch aktuell ist sie selbst etwas in der Krise: Sie hat einen Partner, den sie liebt. Er wünscht sich sehnlichst Kinder. Sina ist sich nicht sicher. Weil es nach über einem Jahr des Versuchens nicht klappt, wird der Kinderwunsch zur medizinischen Angelegenheit. Die Beziehung verliert die Leidenschaft und Sina fragt sich: Will ich die Sache mit dem Kinderkriegen so übers Bein brechen, wenn es scheinbar nicht sein soll? Schließlich sprechen ja auch Argumente gegen den Kinderwunsch.
Eva ist ein cleverer Titel für den Roman, spielt nicht nur auf eine zentrale Figur an, sondern eben auch die christliche Urmutter. Erzählt ist Eva in vier Kapiteln, die sich mehr oder weniger berühren. Im zweiten begegnet der Leser Eva, die nach den Anfeindungen Beruf und Leben in der Stadt aufgegeben hat, um allein auf dem Land zu leben. Unverhofft knüpft sie eine Freundschaft zum Nachbarsmädchen. Nebenbei klärt sich für den Leser der Widerspruch mit dem Hund auf. Es folgen Kapitel mit Sinas älterer Schwester sowie einer ehemaligen Kollegin Evas.
Wie ernst meinen wir es mit der Sorge um die Umwelt und dem Überleben kommender Generationen, wenn wir individuelle Wünsche oder Vorstellungen – ob es wirklich unsere eigenen oder die der umgebenden Gesellschaft sind – am Ende doch priorisieren? Warum schaffen wir es selbst dann nicht sachlich über emotionale Themen zu sprechen, wenn wir bereits auf Messers Schneide stehen? Verena Keßler stellt uns diese Fragen eingebettet in fiktive individuelle Narrative. Sie vermeidet es, dogmatisch zu werden, belässt die Figuren in ihren Ambivalenzen, malt lieber in Graustufen als in schwarz und weiß. Mögliche Fallstricke erzählerischer Natur umschifft sie gekonnt, indem sie Sina beispielsweise in erster Person erzählen lässt, Eva Lohaus aber aus dritter Person schildert, um nicht vier Erzählstimmen auszudifferenzieren (bei den drei Ich-Erzählerinnen hier gelingt es ihr gut).
Elegant, klug, souverän erzählt Verena Keßlers Eva vom bestimmenden Thema unserer Zeit, gefiltert durch vier sehr individuelle Schicksale. Das, meine Damen und Herren und Diverse, ist gute Literatur!
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Eva von Verena Keßler ist bei Hanser erschienen.
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