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“Angst macht unfrei” – Alexa Hennig von Lange über Relax, das Schreiben und Die Wahnsinnige

Alexa Hennig von LangeNiemand solle behaupten, in der Schule würde man nichts fürs Leben lernen. Als eine Vertretungslehrerin Relax von Alexa Hennig von Lange in die Deutschstunde brachte, erweiterte der Roman mein Vokabular und weckte meine andauernde Neugier auf zeitgenössische Literatur. Ein gutes Vierteljahrhundert später (oh man!) habe ich die Gelegenheit genutzt, Alexa Hennig von Lange vor der Veröffentlichung ihres neuen Buches Die Wahnsinnige ein paar Fragen zu stellen. Die folgende Unterhaltung führten wir per E-Mail zwischen Mitte Juli und Mitte August.

Beginnen wir mit einer kleinen Geschichte: Dein Debütroman Relax war ein Erweckungsmoment für mich. Ich war etwa 15 Jahre alt, als eine Vertretungslehrerin den Roman uns in einer Vertretungsstunde lesen ließ. Es war sicher eine der unterhaltsamsten Deutschstunden, an die ich mich erinnern kann. Gemessen an Sprache und Inhalt, gab es für Pubertierende einiges zu kichern. Ein paar Klassenkameraden haben sich den Roman dann gekauft. Ich hatte bis dahin nur spärlich gelesen – ein paar Stephen King Romane und das, was man in der Schule so vorgesetzt bekommt. Relax hat dann meinen Blick auf Literatur verändert – vor allem in sprachlicher Hinsicht (tatsächlich haben wir die Sprache, die deine Figuren dort sprechen, für uns beansprucht). Nach Relax habe ich anders und vor allem mehr gelesen. Welcher Text war die Einstiegsdroge deines Leselebens? Und kannst du mir etwas zur Entstehungsgeschichte von Relax erzählen? 

Alexa Hennig von Lange: Was muss das für eine unerschrockene Vertretungslehrerin gewesen sein? Ganz großartig! Ich konnte alles direkt vor mir sehen!

Zur Entstehungsgeschichte von Relax hat mich in den vergangenen 23 Jahren noch nie jemand gefragt. Mit acht Jahren fing ich an, kleine Geschichten zu schreiben. Später wurden diese Geschichten immer länger und mit dreizehn Jahren war für mich klar, dass ich Schriftstellerin werden möchte. Mit Anfang zwanzig fand ich mein erstes Romanthema: Wieso ist es zwischen Mann und Frau unmöglich, eine gleichberechtigte Beziehung zu führen? Diese Frage interessierte mich aus persönlichen Gründen, gleichzeitig hatte ich mittlerweile verstanden, dass nicht nur ich mir diese Frage stellte. Um diese Frage zu untersuchen, beschloss ich, einen Roman aus der Perspektive eines Jungen und einmal aus der Perspektive eines Mädchens zu schreiben, die ein Paar sind, aber nicht zueinanderfinden, obwohl sie sich lieben. Daraus ist Relax entstanden. Ich schrieb von morgens bis abends. Wie im Rausch. Total abgespaced. Im Grunde genommen existierte ich nicht mehr. Ich konnte gar nicht so schnell schreiben, wie ich den Text in mir hörte. Es ging immer schneller, immer atemloser. Das war schon ziemlich erschöpfend, aber auch genial, weil nichts mehr außerhalb dieser Geschichte existierte und ich gespannt war, wo sie schließlich enden würde – und ob sie mir die Fragen liefern würde, die ich an die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau hatte.

Alexa Hennig von Lange RelaxDie Einstiegsdroge meines Leselebens war natürlich Der Fänger im Roggen von J.D. Salinger. Nachdem ich den Roman mit dreizehn Jahren gelesen hatte, war nichts mehr so, wie es vorher gewesen war. Die Welt um mich herum war eine andere. In der Hauptfigur Holden hatte ich einen Freund gefunden, der offenbar genau so empfand, genau so dachte, genau so reflektierte wie ich. In seiner Geschichte fand ich mein Zuhause, das ich immer bei mir tragen konnte. Mehr oder weniger bewusst verstand ich, wozu Literatur fähig war: Verbindungen zwischen den Menschen zu schaffen, über Zeit und Raum hinweg. Literatur war also dazu da, das Menschsein zu ergründen und Antworten auf grundsätzliche Fragen zu finden.

Dass du Relax mit heißer Feder geschrieben hast, merkt man. Der Text hat so viel Gegenwart, dass man das Gefühl hat, in “Echtzeit” im Kopf von Chris und “der Kleinen” zu stecken und ich denke, das hat mich als Jugendlicher auch so sehr angesprochen. “Die Kleine” hat dich in deinem Leben als Autorin lange nicht losgelassen. Bitte korrigiere mich, wenn ich mich irre, aber sie tauchte in verschiedenen Romanen als Protagonistin auf – Ich habe einfach Glück, Lelle, Warum so traurig? Warum bist du solange bei ihr geblieben und wirst du nochmals zu ihr zurückkehren? 

AHvL: Fast alle meine Romane sind untrennbar mit meiner Biografie, meinem Erleben, meinen Gedanken, Gefühlen und Rückschlüssen verwoben. Das heißt nicht, dass sie autobiografisch sind. Ich nehme mir nur bestimmte Aspekte meiner Vergangenheit vor, um daran ein bestimmtes Thema durchzuarbeiten. Zum Beispiel: Wieso ist es für Mann und Frau so schwierig, sich in bedingungsloser Liebe zu begegnen? Dazu verwende ich bestimmte Ereignisse, Personen, Räume und Konstellationen, die ich zum Teil überhöhe, neu anordne und fiktionalisiere. Tatsächlich ist es aber so, dass sich jenen Lesern, die einige oder alle Bücher von mir gelesen haben, nach und nach ein doch relativ komplettes autobiografisches Bild zeigt, wie eine Art Puzzle, dessen Einzelteile über die Bücher verteilt wurden. Das heißt, „die Kleine“ aus Relax ist in gewisser Hinsicht mein Alter Ego.

„In gewissem Sinne verschwinde ich beim Schreiben“

Die meisten deiner Texte sind in der ersten Person Präsens geschrieben – warum ist das deine bevorzugte Erzählperspektive?

AHvL: Ich bin mit Literatur aufgewachsen, die direkt aus dem Kopf, dem Herzen des Erzählers heraus entsteht. Ohne scheinbare Zensur, ohne scheinbare Priorität. Mich hat diese literarische Form schon immer sehr angesprochen und fasziniert, weil ich mich den Romanfiguren auf diese Weise sehr nah gefühlt habe. Und das geht mir noch heute so. Gleichzeitig erlaubt mir dieses Schreiben ein direktes Hineinempfinden in meine Protagonisten. Ich erlebe direkt mit ihnen, egal, was auch immer sie vorhaben. In gewissem Sinne verschwinde ich beim Schreiben. Das ist vergleichbar mit dem Prinzip des Method Actings, bei dem sich die Schauspieler quasi in ihren darzustellenden Figur auflösen, um ihre Figuren ultimativ zum Leben zu erwecken. Diese Art des Schreibens bringt außerdem eine sehr reduzierte, grafische Erzählform hervor, die sich auf das Wesentliche konzentriert und sich somit erzählerisch immer dicht am Thema des Buches bewegt.

Deine Bibliographie ist über die Jahre beeindruckend umfangreich geworden. Laut Wikipedia bringst du es auf 26 Solo-Veröffentlichungen unterschiedlicher Textsorten (Romane, Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher), dazu kommen noch Bücher, die du mit anderen Autoren geschrieben hast. Wie schaffst du es, so viel zu Papier zu bringen – gab es jemals so etwas wie eine Schreibblockade? Gibt es je nach Textsorte – also beispielsweise Roman, Kinderbuch und Sachbuch – Unterschiede im Schreibprozess?   

AHvL: Glücklicherweise habe ich bisher noch nicht unter einer Schreibblockade gelitten – eher im Gegenteil, manchmal war und ist es schwierig für mich, in dem Umfang zu schreiben, wie ich es gerne würde. Ganz einfach, weil ja auch noch andere Dinge zu tun sind. Also, im Grunde genommen all das Leben, was nicht mit Schreiben gefüllt ist. Und das ist natürlich gut so. Denn: worüber sollte ich schreiben, wenn ich nur schreibe? Tatsächlich ist es so, dass das, was ich erlebe, sofort oder Jahre später in fiktionalisierter Form in meine Bücher fließt. Das Schreiben ist sehr eng mit mir verwoben, eigentlich kaum trennbar. Es dient der ständigen Reflektion und Ergründung offener Fragen. Daher sind meine Bücher natürlich auch mit meiner Biografie verwoben, ohne, dass sie im strengen Sinn biografisch wären. Meine Bücher behandeln jeweils einen gewissen Aspekt, ein bestimmtes Thema, das mich gerade besonders beschäftigt – gesellschaftlich, politisch oder privat.

Was meine Themenwahl anbelangt, mache ich keine Ausnahme, ob ich ein Kinder-, Jugend- oder Sachbuch schreibe. Ich variiere lediglich die Ausdrucksform, mit der ich mein jeweiliges Thema fiktionalisiere und bearbeite und dem Leser hoffentlich einen Raum öffne, in dem auch er sich reflektieren und begegnen kann. So entsteht Verbundenheit zwischen mir und meinen Lesern.

Mit deinem neuen Roman “Die Wahnsinnige” hast du dich erstmals einer historischen Person angenommen. Was hat dich zu Johanna von Kastilien geführt und wie hast du dich hinsichtlich der Recherche dem Projekt genähert? 

Die Wahnsinnige von Alexa Hennig von LangeAHvL: Die Wahnsinnige scheint auf den ersten Blick ein historischer Roman zu sein. Es geht um Johanna die Wahnsinnige, die vor 500 Jahren Herrscherin über das Spanische Reich war, aber von ihrem Sohn und ihrem Vater Ferdinand von Aragón beinahe 50 Jahre in einem Kloster in Tordesillas festgehalten und aufs Furchtbarste gefoltert wurde, um sie am Regieren zu hindern. Doch neben der intensiven Recherche in Spanien, Frankreich und Belgien habe ich vor allen Dingen versucht, mich in Johanna die Wahnsinnige hineinzufühlen und aus ihrem Erleben heraus ihre Geschichte aufzuschreiben. Daher ist Die Wahnsinnige eine sehr subjektive Erzählung, während des Schreibprozesses bin ich sozusagen mit ihr verschmolzen. So ist ihre Geschichte vielleicht auch eine Geschichte geworden, die viele Frauen nachempfinden können. Nicht, weil sie eingesperrt worden wären, sondern weil sie Johannas Gefühl teilen können, nicht so wirksam zu werden, wie sie es gerne würden, in einer von männlichen Prinzipien dominierten Welt.

“Hoheit, so ist die Welt. Niemand ist frei”, bekommt Johanna von einer der ihr Untergebenen zu hören, als sie von ihrer Mutter in Medina del Campo festgehalten wird. Johannas Zeit liegt 500 Jahre zurück. Die Frage, die diesem Zitat innewohnt, überdauert die Zeit: Wie frei können wir als Individuen sein, ohne uns zu isolieren? Wo denkst du wird diese Frage aktuell am sichtbarsten?

AHvL: Nun ja, wie man weiß, finden die Beschränkungen bereits im eigenen Kopf statt. Das heißt, die Beschränkungen sind überall da, wo man ungeprüft an das glaubt, was man zu denken gelernt hat oder ungeprüft Meinungen und Sichtweisen übernimmt, bei denen sich seit Jahrhunderten die Allgemeinheit nicht mehr gefragt hat, ob diese Ansichten, Glaubenssätze und Vorgehensweise überhaupt noch tragbar sind. Solange wir Menschen im anderen nicht ein fühlendes und gleichwertiges Wesen erkennen, sind wir nicht frei, sondern bewegen uns in einer Welt aus Gewinn und Verlust – also in permanenter Angst, etwas zu verlieren, von dem wir aber meinen, dass es uns zusteht. Und diese Angst macht unfrei.

Was liest du zurzeit? 

AHvL: Bonjour Tristesse von Françoise Sagan. Meine große Tochter hat es mir ausgeliehen und gemeint, es könnte mir gefallen – ich kannte es noch nicht.

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