“Alle waren hellwach und gleichzeitig todmüde”: Tommy feiert zusammen mit ein paar Partybekanntschaften am 1. Mai in Berlin. Man ist ausgelassen, seit Tagen unterwegs, voller Drogen. Da sieht er im Landwehrkanal eine junge Frau in einem Hochzeitskleid treiben. Sie ist tot. Roland Schimmelpfennigs Die Linie zwischen Tag und Nacht nimmt den Leser mit in den Berliner Partyuntergrund, zu Rausch und Ruin, Ravern und Dealern.
Tommy ist ein ehemaliger Drogenermittler, der inzwischen aber die Apotheke selbst gern von A bis Z durchkonsumiert. So ganz ist der Polizist aber noch nicht aus seinem System gewaschen. Der Fund der toten jungen Frau, die umgeben von selbstversunken Tanzenden im Wasser treibt, lässt ihn nicht los. Er stellt eigene Ermittlungen an, denn die Frau ist ohne Identität. Die Todesursache selbst wird früh entdeckt: Sie ist innerlich verbrannt – eine Überdosis Ecstasy hat zum Kollaps geführt. Dennoch, er hat einen inneren Drang, die Identität der Frau zu klären.
Dass Tommy die Geschichte so beschäftigt, liegt an seiner jüngeren Vergangenheit, die immer wieder in die Erzählung eingflochten wird: Als Drogenermittler fuhr er im Einsatz einen Jungen tot. Auch dieser blieb ohne Namen. Das traumatisierende Erlebnis führte ihn in Berlins Unterwelt – ehemalige Spitzel aus seinem Milieu werden zu seinen Freunden, bis er selbst ins Visier der Behörde gerät und suspendiert wird. Er wartet aktuell auf eine Anklage, sein Privatleben ist zwischenzeitlich ebenfalls auseinandergefallen. Tommy ist also selbst ein Verlorener der Berliner Nacht, der Fall der mysteriösen Frau wird zum Stern, der ihm eine Richtung gibt.
Das Berliner Nachtleben erscheint als Sackgasse und Erlösung zugleich: Man kann sein, wer man will und sich genauso leicht verlieren, irgendwo zwischen Tag und Nacht. Roland Schimmelpfennig erzählt die Geschichte in kurzen Kapiteln und schnörkellosen Sätzen. Tommys Streifzüge zeigen ein Berlin voller Menschen aus aller Herren Länder, manche sind dort, um frei zu sein und zu feiern, andere, um Geld zu machen. Es ist also ein Text voller Zwielichtiger und skurriler Gestalten, erzählt als eine Art Berliner Noir. Sprachlich bleibt der Ton eher nüchtern, die akribisch aufgezählten Drogen, die quasi permanent konsumiert werden, wirken dabei etwas zu ausgestellt. Dennoch: Die Linie zwischen Tag und Nacht ist ein unterhaltsamer Roman für Zwischendurch, der definitive Text über das verrauschte Berlin bleibt allerdings, zumindest für mich, Airens Strobo.
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Weils es um die Berliner Technoszene geht: Beim Schreiben dieser Rezension hörte ich The Body von Prince of Denmark.
Die Linie zwischen Tag und Nacht von Roland Schimmelpfennig ist bei Fischer erschienen.
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