Ein 400 Jahre währender Krieg: Dass das Thema Rassismus mit dem Ende der Sklaverei und später dem Ende der Segregation noch lange nicht beendet ist, zeigen die beständigen Berichte über tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze. Percival Everett, der erst letztes Jahr ein berührendes Buch über einen Vater und seine sterbende Tochter schrieb (Erschütterung), folgt nun die satirische Kriminalgeschichte Die Bäume über seltsame Morde in Mississippi. Es ist eine komische wie erschütternde Tour de Force durch ein Amerika, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.
Hundert Arten der Stille: Der Inselmann von Dirk Gieselmann
Ein Junge und seine Insel, die Welt als gefühlloser Ort: Dirk Gieselmanns kurzer Roman Der Inselmann ist ein atmosphärisch dichter, existentialistischer Text. In weniger Seiten führt er durch die Widrigkeiten eines ganzen Lebens, erzählt von Resilienz, von Eigensinn und Einsamkeit, von Gesellschaft und Staat.
Kaum noch Luft: Wovon wir leben von Birgit Birnbacher
Arbeit, Luft, Liebe: Wovon wir leben, der neue Roman von Birgit Birnbacher, stellt die großen Fragen. Die Erzählerin Julia findet sich im Alter von 38 Jahren in einer Situation wieder, in der sie versuchen muss, ihr Leben neu zu denken. Aber geht das so einfach, wenn alte Gewissheiten an ihr zehren? Nachdem sie ihren Job in der Stadt verliert, kehrt sie zurück in den Ort ihrer Kindheit – und droht, steckenzubleiben.
Taubheit, Paranoia: The Shards von Bret Easton Ellis
Autofiktion, Queerness, das Spiel mit den Wahrheiten: Bret Easton Ellis’ erster Roman seit 13 Jahren The Shards ist durchaus nah am Puls der Zeit – gefiltert durch eine nostalgisch durchtränkte Erzählung, die 1981 spielt. Ellis ist Autor, Erzähler und Hauptfigur zugleich, mischt wie bei seiner Stephen King Hommage Lunar Park Biografie mit Fiktion und lässt geradezu detailversessen die frühen 1980er Jahre auf dem Papier wiederauferstehen. Ursprünglich seriell als mündliche Erzählung in seinem Podcast erschienen, ist The Shards nach dem eher mauen Imperial Bedrooms eine gelungene Rückkehr auf die literarische Bühne, die aber nicht ohne Längen ist.
Schenkelklopfer: Propofol von Corinna T. Sievers
Ein Chirurg und seine “Milch”: In Propofol lässt Corinna T. Sievers einen alternden Arzt an das ruhmlose Ende seiner ruhmreichen Karriere am Uniklinikum der Hauptstadt Revue passieren. Dem Medizinschrank und den Frauen äußerst zugetan, patzt er ausgerechnet bei der Operation, die seine Karriere krönen soll. Nun, tief aber nicht allzu hart gefallen, zieht er ziemlich reuelos Bilanz.
Wann das mit Jeanne begann von Helmut Krausser
Eine Spritztour durch Frankreich im Mittelalter: Wann das mit Jeanne begann ist die verschachtelte und zumindest für den Leser vergnügliche Erzählung zweiter Weißmagier, die sich in der Geschichte der Jungfrau von Orleans verlieren und dabei dieser zweifelsfrei faszinierenden Figur neue Blickwinkel abgewinnen. Helmut Kraussers Roman ist ein Scharmützel, das seine Karten erst nach und nach ausspielt, fantasievoll und verspielt zugleich, wendungsreich und gut recherchiert.
Individualität, Gemeinwohl: Felix von Holger Brüns
Tom ist Anfang 20 und Teil der links-alternative Szene der Studentenstadt Göttingen Mitte der 1980er Jahre. Er läuft bei Demonstrationen mit, beteiligt sich an Podiumsdiskussionen, macht seinen Zivildienst an der Uniklinik und hängt in der Disko ab. Er hegt den Wunsch, Schauspieler zu werden. Er ist Idealist, lehnt kapitalistisches Besitzdenken ab. Doch wie verhält es sich, als die Liebe von ihm Besitz ergreift? In Felix erzählt Holger Brüns von der alternativen BRD und dem schwierigen Balanceakt zwischen individueller Entfaltung und dem Wunsch, ein Teil von etwas Ganzem zu sein.
Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela Krien
Die Mauer ist weg. Im Sommer 1990 erlebt die bald 17-jährige Marie eine Wende im Äußeren und im Inneren. Daniela Kriens Roman Irgendwann werden wir uns alles erzählen entführt den Leser in die ostdeutsche Provinz wenige Monate vor der Wiedervereinigung. Atmosphärisch dicht erzählt, gelingt der Autorin ein packendes Portrait einer Jugend zwischen Aufbruch, Verharren und Unsicherheit.
Wenn Träumen ein Job wäre: Andere Sterne von Ingvild H. Rishøi
Eine moderne Weihnachtsgeschichte: In Andere Sterne von Ingvild H. Rishøi müssen zwei Mädchen in einem Osloer Arbeiterviertel Weihnachtsbäume verkaufen, weil es der alkoholkranke Vater einfach nicht gebacken bekommt. Das klingt erst einmal trist und wenig nach skandinavischer Idylle, hat aber viel Herzliches und erstaunlich wenig Kitsch. Ein gutes Buch, nicht nur während der Adventszeit.
Das Wenige, das noch bleibt: Zensus von Jesse Ball
Ein Roadtrip der etwas anderen Art. In Jesse Balls eigentümlichem Roman Zensus geht ein Vater mit seinem inzwischen erwachsenen, mit Down-Syndrom lebenden Sohn, auf eine letzte große Reise. Episodenhaft und etwas beklommen fahren die zwei durch ein unbenanntes Land, um den Zensus durchzuführen und doch sich selbst zu vermessen.