Die Vergangenheit wird uns immer heimsuchen, ganz gleich, ob wir anwesend waren. In Verena Kesslers Romandebüt Die Gespenster von Demmin begegnen wir dem kecken Teenager Larissa, die Gegenwart und die Vergangenheit ihrer Heimatstadt Demmin sowie ihrer Familie navigieren muss, um erwachsen zu werden. Es ist ein wunderbar erzählter Coming-of-Age Roman, um dessen freche Erzählstimme sich ein Trauerschleier schmiegt.
Kathedralen der Kindheit: Am Rand der Dächer von Lorenz Just
Eine Jugend in Berlin: Umbrüche, Aufbrüche, Verlust der Unschuld – nach seinem eher durchwachsenen Erzählband Der böse Mensch legt Lorenz Just mit Am Rand der Dächer seinen Debütroman vor. Wie üblich für Debüts, ist es ein Coming of Age Roman, angesiedelt im Berlin der Wendejahre, der seinen Erzähler Andrej bis zur Jahrtausendwende begleitet. Beste Voraussetzung für eine aufregende Erzählung eigentlich, könnte man meinen. Aber von Sturm und Drang fehlt in der Sprache jede Spur.
Neun Lebewohl: Abschiedsfarben von Bernhard Schlink
Nach vielen Jahren ein Wiedersehen mit Bernhard Schlink: Obwohl mir Der Vorleser als Schüler vor inzwischen schrecklich langer Zeit unheimlich gefiel, verlor ich ihn aus den Augen. Jetzt ein neuer Erzählband, Abschiedsfarben, der die Frage aufkommen lässt: Warum eigentlich? Routiniert erzählt, fasziniert der Band mit dem nuancierten Facettenreichtum, dem er sich dem Abschiednehmen nähert.
Die Wahrheit in der Lüge: I Know You Know Who I Am von Peter Kispert
I Know You Know Who I Am: Also ich weiß du weißt wer ich bin ist der Titel von Peter Kisperts – so viel sei vorweg genommen – hervorragendem literarischen Debüt. Dem Erzählband gelingt das Kunststück, in verblüffend unterhaltsamen, zu gleichen Teilen witzigen wie tragischen Geschichten, nach der conditio humana zu fragen. Er entdeckt seine Erzähler in den Lügen, die sie über sich selbst erzählen.
“Gibt es fröhliche Clowns, und wie wäre das?”: Weiter atmen von Zsófia Bán
Man soll ein Buch ja nicht nach seinem Umschlag bewerten. Versuchen wir es trotzdem: Den Erzählband Weiter atmen von Zsófia Bán ziert Attila Szücs Gemälde Mann badet einen Löwen. Es wirkt etwas unscharf, putzig und dunkel zugleich. Verspielt, intim, absurd und unergründlich sind Adjektive, die mir durch den Kopf gegeneinander purzeln – und das ist dann auch eine ziemlich akkurate wenn auch wohl etwas uneindeutige Beschreibung meines Leseerlebnisses.
Entwurzelt: Monster wie wir von Ulrike Almut Sandig
Oh weh, ostdeutsche Pampa steht da im Klappentext und auf der Buchrückseite von Ulrike Almut Sandigs Romandebüt Monster wie wir. Da kullern einem doch schnell viele Klischees durch die Birne. Aber Monster wie wir ist gar nicht so zwingend ein Roman über Ostdeutschland oder blühende Landschaften, die nie übers Keimstadium hinaus kamen – zumindest nicht vordergründig. Eigentlich geht es um Menschen, die kein Zuhause haben – ein Zuhause, das Geborgenheit bedeutet.
Selbstbestimmt oder verrückt? Die Wahnsinnige von Alexa Hennig von Lange
Alexa Hennig von Langes neuer Roman Die Wahnsinnige beleuchtet das Leben einer Königin ohne Macht: Johanna von Kastiliens impulsiver Drang nach Selbstbestimmung kollidierte mit den Machtstrukturen ihrer Gesellschaft und brachte ihr den Beinamen “die Wahnsinnige” ein. Mehr als an der Schilderung historischer Fakten ist Alexa Hennig von Lange an der zeitgemäßen Frage interessiert, wie viel Selbstbestimmung eigentlich möglich ist.
Der Putz bröckelt: Sh*tshow von Richard Russo
Was ist nur los in Amerika? Am Morgen nach den Wahlen laden die Pensionäre David und Ellie zwei lang befreundete Eheleute ein – “das Bedürfnis nach tröstender Gesellschaft” bringt sie dazu (7). Vor allem Ellies “Wahlabendkater” ist schlimm – eine fundamentale Verunsicherung frisst sich in ihr Leben. Sh*tshow von Richard Russo ist eine kurze Novelle, die leichtfüßig von einem gespaltenen Amerika erzählt.
Konzert-Abend beim Palais Sommer 2020
Was wäre der Dresdner Sommer ohne den Palais Sommer? Lauschige Abende voller Entdeckungen in Dresdens schönstem Freiluftsalon gehören zur Jahreszeit wie die Fahrt zum Strand. Schön, dass Corona wenigstens diesem Festival keinen Strich durch die Rechnung gemacht hat – wenngleich in diesem Jahr nur 1.000 Besucher je Veranstaltung zugelassen sind. Am Konzept hat sich wenig geändert – Klavierabende, Konzerte, Filme, Yoga und andere Schöngeistigkeiten stehen noch bis Ende August im Programm.
Wrong (A Critical Biography of Dennis Cooper) von Diarmuid Hester
Lyriker, Romancier, Dramaturg, Herausgeber, Blogger, Filmemacher: Der heute 67-jährige Dennis Cooper hat ein umfassendes Werk hervorgebracht, das nach wie vor in Entwicklung ist. Ende Juni erschien ein neues “GIF novel” (Zac’s Drug Binge [Vorsicht!]), ein zehnter, womöglich letzter Roman (I Wished) wurde für 2021 angekündigt. Cooper ist ein bewunderter oder verachteter, zweifelsfrei ein nachhaltig die Literatur beeinflussender und in seiner künstlerischen Vision absolut kompromissloser Schriftsteller. Behandelt wurde sein Werk in der Wissenschaft bisher aber nur in Aufsätzen. Jetzt – endlich – verlegt die University of Iowa Press die kritische Biografie Wrong, das Ergebnis einer eine Dekade dauernden Recherche von Diarmuid Hester.