Blicke ich auf das Buchjahr 2024 zurück, um die drei überzeugendsten Veröffentlichungen herauszugreifen, kann ich das zweite Halbjahr direkt überspringen. Lediglich Der Schatten einer offenen Tür von Sasha Filipenko ragte aus einem mittelmäßigen Herbst heraus. Die Highlights waren im Frühjahr zu finden. Da wäre James von Percival Everett, das auf vielen Bestenlisten zu finden sein wird; oder Weltalltage von Paula Fürstenberg, ein wunderbares Buch über eine bröckelnde Freundschaft. Elias Hirschl lieferte mit Content einen starken Roman ab, wenn er auch nicht ganz an Salonfähig anknüpfen konnte. Drei richtig gute Bücher. Aber drei weitere haben mir noch besser gefallen.
Trophäe von Gaea Schoeters
Gaea Schoeters Roman thront über jeder anderen Veröffentlichung in diesem Jahr. Ein wohlhabender Geschäftsmann begibt sich in Afrika auf Großwildjagd, um die großen 5 voll zu machen. Aber Wilderer kommen ihm in die Quere, schießen sein Nashorn. Nun, wo die begehrte Trophäe verloren ist, macht sein Jagdführer einen ungeheuerlichen Vorschlag: Wie wäre es mit einer Menschenjagd?
Trophäe führt uns, auf Basis eines aufmerksamen Hemingway-Studiums und mit einem Zitat von Joseph bewaffnet, “ins Herz der Dunkelheit”. Schoeters ist ein moralisch zutiefst ambivalenter Roman gelungen, der Schwarz-und-Weiß-Denken in erschreckende Grautöne überführt, über (Post-)kolonialismus, Rassismus, Kapitalismus sowie die Absurditäten heutigen Artenschutzes nachdenken lässt – all das verkleidet in einem beinharten Thriller, bei dem man den Schweiß des Jägers förmlich von der Seite riechen kann. Wahrhaftige Literatur!
The Bullet Swallower von Elisabeth Gonzales James
Ausgehend von ihrer eigenen Familiengeschichte ist Elisabeth Gonzales James ein folkloristischer, beinharter Western gelungen, der drei Generationen umspannt und den Leser über die großen Themen Schuld und Sühne nachdenken lässt.
El Tragabalas ist der Enkel eines einst mächtigen Minenbesitzers, der für die massenhafte Anhäufung von Gold eine ganze Gemeinde niedermetzeln ließ. Der Sündenfall der Familie schien auch ihr Untergang gewesen zu sein. Nun, Ende des 19. Jahrhunderts und somit auch am Ende des amerikanischen Frontiers ist El Tragabalas ein mittelloser Bandit, der einen wahnwitzigen Zugraub begehen will und dabei so grandios scheitert, dass es ihn seinen Bruder kostet und fast sein eigenes Leben. Fast hundert Jahre später stößt Jaime Sonoro auf die unheimliche Familiengeschichte und wähnt sich verflucht…
Poetisch, gewalttätig, spannend: Eine überaus originelle Neuerzählung des Westerns.
Wendeschleife von Regula Portillo
Regula Portillo praktisch fehlerloser Roman hat viel zu wenig Aufmerksamkeit erhalten. Vielleicht liegt es am etwas langweiligen Cover oder der Tatsache, dass der Plot auf dem ersten Blick nichts Ungewöhnliches verspricht. Und doch kann dieser komprimierte Text, an dem wahrlich kein Wort zu viel ist, nicht anders als Leser in den Bann ziehen. Er spricht schließlich universelle Themen an: Das Eigenleben, das Menschen in den Köpfen anderer annehmen. Anna hat noch den Geist ihres Exfreundes im Kopf, als plötzlich ein junger Amerikaner als Sofa Surfer vor ihrer Tür steht. Es entwickelt sich eine Art Freundschaft – Anna lässt den Mann an ihrem Leben teilhaben für die Dauer seines Aufenthalts. Als er einen Ausflug zum Matterhorn machen will, kehrt er nicht zurück – ein Ereignis, das Kaskaden in Annas Kopf lostritt.
Wendeschleife ist ein wunderbar eleganter, klarer Text über den Ausnahmezustand im Alltag, über Menschen und die Bedeutungen, die wir ihnen zuschreiben und über den Abschied von realen sowie imaginierten Geistern.
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