Ein rätselhafter Text über ein unheimliches Dorf: Greta Lauers Gedeih und Verderb bringt den Leser formal und inhaltlich ins Grübeln. Ohne Paratext versehen fehlt bereits das literarische Ordnungssystem: Ist das hier ein langes Prosagedicht, eine Novelle, ein Roman? Sprachlich extrem verdichtet, narrativ widerspenstig, fühlt man sich als Leser etwas an William Burroughs erinnert. Es ist ein mutiger Text für abenteuerlustige Leser.
Die Erzählerin – oder sollte man sagen: das lyrische Ich? – in Gedeih und Verderb ist aus einem Dorf mit seltsamen, archaischen Traditionen. Gleich zu Beginn wohnt sie der Großmutter bei, wie diese Kehlköpflein schält: “Sie greift nach dem Messer und schabt Fetzchen für Fetzchen vom Köpflein” (6). Warum sie das macht, bleibt ebenso rätselhaft wie andere Bräuche, zum Beispiel jenem, in dem die Großmutter den versammelten, geschlechtsreif gewordenen Jungen des Dorfs die Vorhaut mit dem Mund abnimmt und sie im Archiv verstaut. In der Stadt ist es auch nicht besser: “Wie die weißgelben Flocken einer Eiersuppe nistet der Grind unter den Vorhäuten. Und überall Gestank. Ich habe hier nichts zu suchen” (18).
Gedeih und Verderb ist ein Text amoklaufender Fantasie, einem an der Lyrik geschulten Rhythmus und einem brutalen Register. Desorientierend, entrückend schleicht sich Menschenkel gepaart mit Ratlosigkeit unter die Haut. Gibt es eine Handlung und einen Plot, so sind sie überschichtet von der lyrischen Verdichtung des Stoffes und gleichzeitig fragmentiert. Schwerelos und bleiern zugleich hängen die Absätze auf den Seiten. Worum geht es? Gewalt? Schmerzen? Vererbt über Generationen, ritualisiert und normalisiert durch Tradition. Verschwiegen von geschälten Kehlköpfen?
Gedeih und Verderb ist ein kurzes Buch an dem man lange knabbern kann. Die beste Wahl ist wahrscheinlich, sich in einem Zug davon erschlagen zu lassen. Betreten auf eigene Gefahr.
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Gedeih und Verderb von Greta Lauer ist bei Luftschacht erschienen.
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