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Die Leiden des jungen Robbie: Scanlines von Todd Keisling

Scanlines von Todd KeislingComing-of-Age-Text als Horror Novelle: In Todd Keislings Scanlines sehen drei Jugendliche einen Film, den sie besser nicht gesehen hätten. Eigentlich dachten die Jungs, sie laden sich mit ihrem 56k Modem einen Porno runter. Tatsächlich bekommen sie eine Aufzeichnung zu sehen, in der sich – wahre Begebenheit – Ende der 80er Jahre der in einen Korruptionsskandal verwickelte Kongressabgeordnete Budd Dwyer (in Scanlines: Benjamin Hardy) bei einer Pressekonferenz vor laufenden Kameras einen Revolver in den Mund schiebt und abdrückt.

Scanlines verbindet 90er Jahre Nostalgie mit Stephen King Horror: Wir lesen von 56k Modems, Internettauschbörsen, Nintendo 64 und Marilyn Manson und einem versehentlich falsch heruntergeladenen Film, der jeden, der ihn sieht, für immer verfolgt. Erzählt wir aus der Perspektive von Robbie, der viele Jahre später auf die Ereignisse im Jahr 1998 zurückblickt. Seine besten Freunde, Danny und Jordan, bei denen er täglich abhing und mit denen er den Film sah – man dachte es sei ein Porno – sind inzwischen bereits tot.

I wanted to look away, but I couldn’t bring myself to do so. Knowing what was happening, I was drawn to the mystery of uncharted waters. I’d never seen someone die before, much less willingly take their own life, and the appeal of witnessing something for the first time overpowered the utter horror I felt in my gut (20).

Todd Keisling hat sich für seinen fiktionalen Text, der aber nicht frei von autobiografischer Beimischung ist, hier von einer wahren Begebenheit inspirieren lassen. Budd Dwyer schoss sich 1987 tatsächlich vor laufenden Kameras in den Kopf. Wer Scanlines gelesen hat, will aber lieber nicht danach googlen. Denn Robbie und seinen Freunden wird das Betrachte des Videos zum Verhängnis, das sie nicht mehr loslässt. Es ist als hätte sich das grobkörnige Gesicht des Selbstmörders verselbstständigt, sucht sie in Träumen heim, legt sich wie eine Maske über die Gesichter anderer Menschen, mit denen sie sprechen. Die Konstitution der drei Teenager verschlechtert sich ob des chronischen Schlafmangels, der Tote scheint sie zu rekrutieren, es ihm gleichzutun. Ratlos und verzweifelt wendet sich Robbie an eine Mitschülerin, die im Videoclub der High School ist. Danny und er sind auch verliebt in sie. Er hofft, dass sie vielleicht den Ursprung des Videos entschlüsseln und seinen unheimlichen Zauber brechen könnte. Vielleicht hofft er auch, ihr dabei näher zu kommen. Der Schuss geht jedoch noch hinten los: Auch sie sieht das Video und wird heimgesucht. Der Horror nimmt seinen Lauf…

Der Leichtsinn der Jugend, der Verlust der Unschuld und Depressionen sind die Themen, die in diesem kurzen, unter die Haut kriechenden Text unheilvoll gären. Keisling erzählt die Geschichte retrospektiv aus der Sicht Robbies sowie in den Tagebucheinträgen Dannys, die Robbie zur Zeit des Erzählens liest. Trotz der Kürze des Textes von knapp hundert Seiten bekommen seine Figuren, auch durch den zeitlichen Kontext, der jedem Kind der 90er vertraut sein dürfte, zum Leben, was den Horror, der sich ihnen am letzten Tag ihrer Kindheit zeigt, nur eindringlicher werden lässt.

Scanlines ist ein mitreißender, prägnanter Text, der auch Stephen King gefallen würde.

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Scanlines wurde noch nicht ins Deutsche übertragen.

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