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Kathedralen der Kindheit: Am Rand der Dächer von Lorenz Just

Am Rand der DächerEine Jugend in Berlin: Umbrüche, Aufbrüche, Verlust der Unschuld – nach seinem eher durchwachsenen Erzählband Der böse Mensch legt Lorenz Just mit Am Rand der Dächer seinen Debütroman vor. Wie üblich für Debüts, ist es ein Coming of Age Roman, angesiedelt im Berlin der Wendejahre, der seinen Erzähler Andrej bis zur Jahrtausendwende begleitet. Beste Voraussetzung für eine aufregende Erzählung eigentlich, könnte man meinen. Aber von Sturm und Drang fehlt in der Sprache jede Spur.

Am Rand der Dächer ist eine Geschichte über ein sich wandelndes Berlin, über das Erwachsenwerden und über Freundschaft. Andrejs bester Freund ist Simon, mit ihm und seinem Bruder Anton zieht er durch die Stadt. Als Kinder durchstöbern sie besetze Häuser, vorbei an “Stalagmiten aus Taubenkot” (70), später steigen sie in eben jene inzwischen zu bürgerlichen Palästen sanierte Stadtwohnungen in Berlin Mitte ein, um sie auszurauben. Man baut Unfug, löst einen Großeinsatz der Feuerwehr aus, ballert sich mit Luftpistolen ab, spielt Basketball und träumt von Amerika, wie es Post-Wende Jugendliche in den 90ern oft taten.

Besetzte Häuser, beste Freunde, erste Liebe, der Verlust der Unschuld: Am Rand der Dächer hat alles, was ein aufregender, in einer Metropole spielender Text über Heranwachsende braucht. Und doch liest er sich nicht aufregend, entfaltet kaum einen Sog. Den einen Konflikt, um den der Text herum strukturiert wird, gibt es nicht. Vielmehr erzählt Just chronologisch von den Erfahrungen seines Erzählers, was durchaus üblich ist für Coming of Age Romane. Menschen driften vorbei, Interessen verändern sich. Die zwischenzeitliche Faszination für Waffen und Amokläufe, die plötzlich unheilvoll aufzieht und Spannung verspricht, driftet dann ohne Konsequenz aus der Erzählung, wird von anderen Hobbies (Basketball und mit Simon klauen gehen) abgelöst. Ärgerlich ist, wie Just sich dabei immer wieder an Beschreibungen aufhält, die den Text nicht voranbringen und es verpasst, den Text dynamisch zu gestalten, den Rhythmus zu variieren.

Bei dem Blödsinn, den Andrej und Simon teilweise anstellen, könnte Just beim Leser durch ein strafferes Erzählen für Herzklopfen sorgen. Ungefähr in der Mitte des Buches zerdeppern beide die Scheibe eines Autos. Das Ganze wird aber ohne Aufregung erzählt, stattdessen lässt Just seinen jugendlichen, heterosexuellen Erzähler den Besitzer des Autos ausführlich beschreiben, in einer Weise, die für einen Heranwachsenden untypisch scheint:

Er hatte kein unangenehmes Gesicht, es war schön, männlich auf eine klassische, geradezu märchenhafte Weise, wenn auch ungewohnt glatt rasiert. Seine Augen funkelten zwar zornig, doch feine Lachfalten ließen erahnen, dass er Humor haben musste (140).

Daran schließt sich noch eine Beschreibung der Kleidung des Mannes an. Nimmt ein Jugendlicher, dem angesichts der begangenen Straftat das Herz in die Hose rutschen dürfte, wirklich Zeit für eine detaillierte, ja beinah liebevolle Betrachtung eines Erwachsenen? Schieben wir die Frage der Plausibilität beiseite, um eine andere Frage zu stellen: Was tut diese Beschreibung für den Text? Weder der Mann noch die Straftat spielen im weiteren Verlauf des Textes noch irgendeine Rolle. Passagen wie diese reihen sich in Am Rand der Dächer aneinander, wir lesen im Detail von langweiligen Schulstunden oder redundante Beschreibungen alltäglicher Vorgänge, wie dem Öffnen einer Coladose.

“[D]ie Welt war für den Augenblick schrankenlos” (227), erinnert sich Andrej gegen Ende der Erzählung, aber nur selten erwacht der Text aus seinem gemächlich-beschreibendem Ton und fängt genau dieses Gefühl sprachlich ein. Im letzten Viertel zieht Just den Ton an, schenkt uns zumindest Silvester 2000 ein Bild, das diesen Zauber zum Leben bringt:

Simon stand auf einem Schornstein und zündete Raketen am ausgestreckten Arm an, dass sie ihm wie Feuerbälle aus den Händen zischten, über unseren Köpfen explodierten und uns mit Funkenregen segneten. Wer zu lange hinaufsah, dem schwindelte (233).

Funken und Schwindel, Rhythmus Variationen – genau das fehlt dem Text. Es passieren, nüchtern betrachtet, aufregende Dinge in diesem Text. Doch sie lesen sich fast schon dröge. Hier wird zu viel Wert auf schöne Sprache gelegt, die den Rausch der Dinge unnötig betäubt. Der durchaus interessanten Rekonstruktion des 90er Jahre Berlins zum Trotz fehlt Am Rand der Dächer das Unmittelbare und das Gefühl, dass hier steht wirklich etwas auf dem Spiel steht. Schade.

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Am Rand der Dächer ist bei Dumont erschienen.