In Kristin Höllers Debütroman Schöner als überall fremdelt ein junger Erwachsener mit seinen Freunden, seiner gutbürgerlichen Herkunft und vor allem mit sich selbst. Ein betrunkener Schabernack mit seinem besten Freund führt ihn überstürzt aus München einige hundert Kilometer zurück in sein Heimatdorf. Wie in Coming of Age Romanen üblich, führt diese Reise durch große Verunsicherung zu einer Selbstverortung. Ein gelungenes, wunderbar erzähltes Debüt.
Martin ist ein feinfühliger junger Mann, der mit großen Augen an seinem besten Freund Noah klebt. Mit diesem ist er nach der Schule aus einer spießbürgerlichen Siedlung nach München gezogen. Während Martin in einer kleinen Wohnung wohnt und, so scheint es, ziellos vor sich hin studiert, ist Noah der Star eines deutschen Kinofilms geworden. Man fühlt sich zu Beginn des Romans etwas an Der große Gatsby erinnert: Martin, der als Ich-Erzähler fungiert, erzählt kaum über sich und ganz viel über die Dinge, die Noah so anstellt. Man könnte meinen, er ist der Protagonist dieser Erzählung.
Noah hat nicht nur die Aufmerksamkeit seines besten Freundes sicher. Seit er ein Star ist, ist er ein gern gesehener Gast auf allen Parties. Doch hinter seiner großen Persönlichkeit steckt auch viel Blendertum. Denn weitere Rollenangebote lassen auf sich warten. So richtig ernst scheint er es mit der Schauspielerei auch nicht zu nehmen – sie ist eher Selbstzweck seines übergroßen Egos:
Wenn Noah rennt, dann rennen sie ihm hinterher, folgen ihm überall hin, weil er so einladend läuft und so charmant ausschaut dabei und weil er einfach in den Köpfen herumzündelt, bis alle voller Feuer sind für ihn, obwohl er nicht mal ihre Namen kennt (14).
Die Aufmerksamkeit kommt nicht von allein. Bei einer Party übertreibt er es mit dem jugendhaften Übermut und klettert betrunken auf dem Königsplatz auf die Statue der Athene. Dabei bricht er ihren Speer ab. In Sorge, was diese Aktion mit seinem Image macht, mietet er einen Transporter, um das Ding wieder loszuwerden. Der treue Martin fährt natürlich mit. Das Ziel ist die alte Heimat. Die Atemlosigkeit, die diesen ersten Seiten von Schöner als überall innewohnt, bleibt weiterhin erhalten. Höller schreibt in der ersten Person Präsens und diese Unmittelbarkeit steht dem Text wirklich gut, weil es Höller gelingt, Martins Gedankenfluss einen eigenen Sound zu geben, der nicht aufgesetzt wirkt. Als Leser reist man also im Kopf des Protagonisten mit und wird Zeuge, wie dieser mehr und mehr ins Zweifeln kommt über die Einstellungen zu seinen Freunden und seiner Herkunft.
Denn Martin ist ein bisschen auch ein Mann ohne Eigenschaften, der sich bisher einer Eigenständigkeit entzogen hat. Er folgt nicht nur treu seinem besten Freund Noah. Er steht auch noch unter dem Einfluss seiner Jugendliebe Mugo, die er seit dem Wegzug nicht mehr gesehen hat. Anders als Martin und Noah wuchs Mugo mit einer alleinerziehenden Mutter in einem Plattenbau auf. Zusammen träumten sie immer davon, abzuhauen. Aus Angst allein zurückzubleiben, folgte Martin Noah überstürzt nach München – der Kontakt zu Mugo brach ab. Doch sie wohnt noch in seinem Kopf. Ihre mürrischen Klagen über die gutbürgerliche Gesellschaft hat er – obwohl sie im Widerspruch zu Noah stehen – unreflektiert übernommen. Er himmelt sie immer noch an, das Verhältnis bleibt ungeklärt: “Es kommt oft dieses Gefühl und kriecht in den Hals und von da aus direkt in die Brust und geht dann nicht mehr weg, stundenlang (52).”
Es wohnen also zwei Menschen in Martins Kopf – aber wo bleibt er? Die Reise zurück wird paradoxerweise zu einem Abnabelungsprozess voller Ernüchterung. Flüssig, fluffig, humorvoll und angemessen hibbelig bringt Höller diesen klassischen Coming of Age Stoff in 217 Seiten zu Papier. Ein gelungenes Debüt.
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Schöner als überall ist bei Suhrkamp erschienen.