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Verstehen, was man nicht verstehen kann: God, Jr. von Dennis Cooper [Kritik]

Dennis Cooper God, Jr.Dennis Cooper gilt als Meister der transgressiven Literatur. Stilsicher wandelt er seit den 1980er Jahren auf den Spuren von Lichtgestalten wie de Sade oder Burroughs. Den großen Ruhm erlangte er nie. Dafür überschritten seine Texte wohl zu viele Grenzen. Sprachlich oft klar und knapp, inhaltlich komplex und mit Gewalt und Sex in die Magengrube der Leser boxend, versperrte sich sein Werk einer großen Leserschaft. Mit God, Jr. ist nun eines seiner zugänglichsten Werke erstmalig in deutscher Übersetzung beim Luftschacht Verlag erschienen.

Dennis Coopers Romane, Stories und Gedichte zu lesen, ist wie in ein dunkles, unterirdisches Labyrinth hinabzusteigen. Hinter jeder Ecke können sich Abgründe auftun. Die Texte spielen oft an den Rändern der Gesellschaft, häufig sind homosexuelle Teenager, Punks und Prostituierte die Protagonisten. Grenzen zwischen Gewalt und Sex sind schwer auszumachen, dabei macht Cooper auch vor Tabus wie Nekrophilie und Kannibalismus nicht halt. Diese düsteren Sujets sind aber nie Selbstzweck. Hinter all dem Schrecken verbergen sich Fragen zu Identität und Lust, auch Gesellschaftkritik spielt eine Rolle.

Wer den in Paris lebenden Amerikaner in seinen Kopf lassen will, sollte also nicht zimperlich sein. Die expliziten Inhalte drohen dabei schnell, den Blick für die Qualitäten dieses Schriftstellers zu versperren, der nicht nur inhaltlich, sondern auch formal Grenzen auslotet. Sein Stil zeichnet sich durch eine klare, auf das Wesentliche reduzierte Sprache aus. Manche Texte sind so elliptisch, dass es nicht immer leicht ist, ihnen zu folgen. Darüber hinaus hat Cooper ein großes Interesse daran, andere Medien in die formale Gestaltung seiner zunehmend selbstreferentiellen Romane einzubeziehen. Sluts besteht zum Beispiel aus Profilen und Chatverläufen einer Online-Dating-Plattform; Zac’s Control Panel ist eine Art Collage aus animierten GIFs; God, Jr. wagt sich in ein Videospiel.

Wer God, Jr. aufschlägt, muss also gewissermaßen mit allem rechnen. Der eigentliche Schock ist dann aber, dass der 139 Seiten kurze Roman weitestgehend auf Gewalt und Sex verzichtet, wenngleich auch dieser Text nicht ohne einen toten Teenager auskommt. Doch das hat ausnahmsweise nichts mit ausgefallenen Sexpraktiken zu tun. God, Jr. wird von dem ehemaligen Immobilienmakler Jim erzählt, der seit einem selbst verursachten Autounfall, bei dem sein Sohn Tommy starb, im Rollstuhl sitzt.

Die reduzierte Sprache, die in Coopers meisten Werken zu finden ist und oft brutal wirkt, erzielt hier einen ganzen anderen Effekt. God, Jr. ist ein behutsam, beinah zärtlich erzähltes Werk, das Tod, Schuld und Identität in kurzen Vignetten verhandelt. Eine klare Verwandtschaft zu den düsteren Erzählungen seines Erschaffers ist dennoch erkennbar. Die Figuren in Coopers Texten sind oft manische Gestalten, die sich durch beinah zwanghaft wiederholendes Verhalten auszeichnen, von ihren Begierden nicht ablassen können und durch die zwanghafte Wiederholung zum Teil abscheulicher Handlungen die Objekte ihrer wie auch immer gearteten Sehnsucht vollends verstehen oder einnehmen wollen. In Romanen wie Period oder The Marbled Swarm trifft der Leser auf Figuren, die die Objekte ihrer Begierde ganz und gar ergründen, etwas Ungreifbares fassbar machen wollen und dabei schaurige Fantasien in die Tat umsetzen. Den Vorwurf könnte man vielleicht auch Cooper machen, der in seiner langen Karriere so oft auf ausartende Darstellungen von Sex und Gewalt zurückgriff, dass seine späteren Texte zusehends selbstreferentiell wirken.

Auch der Erzähler von God, Jr. hat dieses zwanghafte Verhalten. Der Tod des Sohnes hat ihn – wörtlich – paralysiert. Sein Bewusstsein dreht sich darum, eine Verbindung zum verstorbenen Sohn aufzubauen. Der Teenager war ihm ein Stück weit ein Rätsel, das er nun ergründen will, um den Verlust irgendwie zu kompensieren. Nur wie will man etwas ergründen und verstehen, das schlicht nicht mehr da ist?

Das Trauma seines Verlustes und seiner Rolle darin, lässt Jim nicht mehr los. Zu Beginn des Romans versucht er, die verlorengegangene Gegenwart des Sohnes durch ein riesiges Monument zu ersetzen, das Tommy wiederholt in ein Notizbuch kritzelte. Dieses Monument, das von einem Nachbarn als “Volkskunst, die Amok gelaufen ist” beschrieben wird, hat den trauernden Vater und dessen immer distanzierter auftretender Frau auch zu medialer Aufmerksamkeit verholfen. Wie sich herausstellt, hat Tommy das Gebilde aus einem Nintendo-Spiel kopiert. Der Spielehersteller droht sogar zu klagen. Während Jims Frau zwischenzeitlich versucht, über ein Medium mit dem Sohn Kontakt aufzunehmen, verliert sich Jim zusehends in eben diesem Videospiel.

Dort übernimmt Jim denselben Avatar (einen Bären) wie Tommy – und damit sozusagen seine digitale Form. Jim imaginiert dabei Unterhaltungen mit den anderen Figuren des Spiels, um mehr über seinen Sohn zu erfahren. Während der Beginn des Romans den Umständen von Tommys Tod nachspürt und sich um die Ereignisse rund um das monströse Monument zu seinen Ehren dreht und dabei die sich auflösende Beziehung der Eltern einfängt, verlagert Cooper die Handlung im letzten Drittel fast ausschließlich in das besagte Videospiel und hin zu philosophischen Gedankenspielen. So halten die anderen Spielfiguren den Bären für einen distanzierten, gleichgültigen Gott, weil Tommy das Spiel oft stundenlang pausierte und somit die Logik des Spiels aus der Bahn warf:

‘Zuerst musst du etwas verstehen’ sagt die Pflanze. ‘Der Bär ist ein Bär. […] Du gehst, du trottest. Du tötest, du löst Rätsel. […] Abgesehen davon, werde ich dir Folgendes erzählen. Tommy hat Wochen und Wochen genau dort unten verbracht und rein gar nichts getan. […] Alles, was ich weiß, ist, was sein seltsames Verhalten uns angetan hat. Du würdest es Reife nennen. Wir fingen an zu spekulieren. Warum sind wir immernoch hier?

Solche Momente, die in gewisser Weise die “reale” Situation des sich in einem Pause-Zustand befindlichen Erzählers spiegeln, reihen sich in der digitalen Umgebung des Videospiels an philosophische Fragen zu Identität, Tod und Leben: Baut Jim wirklich eine Verbindung zu Tommy auf oder verwechselt er seine eigene Vorstellung von ihm mit dessen wahrem Wesen – und gibt es so etwas überhaupt? Und was bleibt davon, wenn die körperliche Hülle eines Menschen unter der Grasnarbe verschwunden ist?

God, Jr. hat einen besonderen Platz im oft schroffen Werk dieses außergewöhnlichen, furchtlosen Schriftstellers. Es ist vielleicht Coopers bester, in jedem Fall aber zugänglichster Roman. Uneingeschränkte Empfehlung!

*

God, Jr. erschien im November 2017 in deutscher Übersetzung als liebevoll gestaltetes Hardcover beim Luftschacht Verlag. Die englische Originalausgabe erschien 2005 als Taschenbuch bei Grove Press, Black Cat. Der Luftschacht Verlag hat bereits weitere Übersetzungen von Dennis Cooper angekündigt. Update: Mein loser Fader erschien im Herbst 2018. Zur Rezension.