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Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela Krien

Irgendwann werden wir uns alles erzählenDie Mauer ist weg. Im Sommer 1990 erlebt die bald 17-jährige Marie eine Wende im Äußeren und im Inneren. Daniela Kriens Roman Irgendwann werden wir uns alles erzählen entführt den Leser in die ostdeutsche Provinz wenige Monate vor der Wiedervereinigung. Atmosphärisch dicht erzählt, gelingt der Autorin ein packendes Portrait einer Jugend zwischen Aufbruch, Verharren und Unsicherheit.

Maria ist auf den Brendel-Hof gezogen, weil sie Johannes liebt. Zur Schule geht sie nur noch selten, auch die Mutter besucht sie kaum. Auf dem Hof findet sie familiären Anschluss, eine heile Land-Welt. Denn die Mutter ist arbeitslos geworden – ein Schicksal, das viele im Zusammenbruch der DDR teilen – und der Vater ist schon seit Jahren fort in die Sowjetunion. Dort hat er eine neue Verlobte, wie es heißt. Und die ist kaum älter als Maria.

Auf dem Brendel-Hof packt die Heranwachsende an. Es wird viel gearbeitet, wenig geredet und wenn, dann lieber über andere. Wie in jedem Dorf, gibt es auch hier Geheimnisse, über die man nur im Verborgenen spricht. Maria lernt Kochen und Backen und vertreibt sich die Zeit, die sie eigentlich in der Schule verbringen würde, mit der Lektüre von Dostojewski, aus dessen Die Brüder Karamasow auch der Titel dieses Romans entlehnt ist.

Neben dem Brendel-Hof liegt der Henner-Hof. Dieser ist nicht so gut in schuss, versunken in der Zeit und in Geheimnissen. Hier lebt keine intakte Familie, sondern ein dem Alkohol zugewandter, alleinstehender Mann um die 40. Er ist wie Maria der Literatur zugetan und übt eine kaum zu benennende Faszination auf die junge Frau aus. Sie kann nicht widerstehen, kommt ihm näher, als sie eigentlich will, er nimmt sie, gewaltsam, aber einvernehmlich. Ein Feuer ist entfacht, das Maria in eine innere Not versetzt: Schließlich lebt sie gut und gerne auf dem Brendel-Hof, auf den sie ihre Beziehung zu Johannes gebracht hat. Der hat aber nichts von dem Animalischen, das Maria so gefangen nimmt. Frisch vom Abitur, liebäugelt der junge Mann mit einem Fotografie-Studium in Leipzig.

Zerrissen, wach und taub zugleich, driftet Maria durch die Tage des Sommers, hin- und hergerissen für ihre Zuneigung zu Johannes, ihrer Dankbarkeit gegenüber seiner Familie, ihrer Lust nach einem doppelt so alten Mann und letztlich auch der Frage, was sie mit ihrer Zukunft eigentlich anstellen soll. Denn gerade jetzt, wo die Zukunft für junge Menschen in der DDR so offen scheint wie nie, ist Marias Blick verengt auf eine aus der Zeit gefallenen Häuslichkeit im Nachbarhof. Ist es die Ohnmacht ob einer Zukunft ohne Leitfaden vor dem Hintergrund einer instabilen Kindheit oder wirklich Liebe, die Maria in den Henner-Hof zieht?

Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist ein Buch über Geheimnisse und die Blicke, die sie verstellen, über Wandlungsprozesse und darüber, wie das Individuum sie nur eingeschränkt bestimmen kann. Daniela Krien lässt ihre Maria dabei in einer erinnerten Form der ersten Person Präsenz berichten, was dem Roman eine ungeheure Sogwirkung verleiht, ohne ihn je melodramatisch werden zu lassen.

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Irgendwann werden wir uns alles erzählen ist bei Diogenes erschienen. Die besprochene Neuauflage ist mit einem Vorwort der Autorin versehen. 

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