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Mit dem Kopf in den Sternen: Der verschwundene Mond von Zoe Jenny

Der verschwundene Mond von Zoe JennyZoe Jennys Debütroman Das Blütenstaubzimmer (1997) ist eines der wenigen Bücher, die ich drei Mal gelesen habe. Seitdem hat sie nicht viel veröffentlicht, zuletzt den Erzählband Spätestens morgen vor neun Jahren, alles eher kurze Bücher mit weniger als 200 Seiten. Nichts war annähernd so erfolgreich wie das vielfach übersetzte Debüt. Die betörend einfache, poetische Sprache hat sie aber nie verlassen und sie ist ihr auch im ersten Roman seit über zehn Jahren, Der verschwundene Mond, hold geblieben.

Mit 126 Seiten und ohne starken Fokus auf Plot ist Der verschwundene Mond ein typischer Text für die Schweizerin. Atmosphäre, Stimmungen, innere Wandlungsprozesse sind ihre Sache. Ihre Stärke ist die Reduktion: Denn Der verschwundene Mond schneidet so viele Themen des zeitgenössischen Lebens an, dass andere Schreibende einen Wälzer daraus gestrickt hätten. Sie reißt die Diskurse an, soweit sie den Horizont ihres Protagonisten kreuzen: Marty leitet das Astronomische Institut in Wien und hat so gesehen ziemlich wenig mit gesellschaftlichen Themen zu tun. Er hat den Kopf in den Sternen:

Er hatte sich über die Jahrzehnte eine ausgewählte Sammlung fossiler Schätze und Himmelskörper angelegt und er betrachtete sie eingehend mit heimlicher Freude, wenn er allein war und ihn niemand störte (12).

Sein Lebensidyll beziehungsweise der Status quo ist aber wackliger denn je. Der erste Satz des Romans zeigt es an: “Das Fenster war aus den Angeln gehoben” (7). Jenny hebt das beschauliche Leben dieses Mannes behutsam und ohne dramaturgischen Bombast nach und nach aus den Angeln. Die Unruhe kommt natürlich nicht aus den Sternen, sondern aus der Familie. Seine Frau scheint unzufrieden, die Tochter im Teenageralter fremdelt mit dem Vater – “der Esstisch [war] zur Kampfzone geworden” (14). Konfliktscheu wie er ist, driftet die Familie auseinander:

Und wie er Mutter und Tochter so zusammen sah, eine Einheit, die sich umkreiste wie eine Art Doppelsternsystem, gebunden an Anziehungskräfte, von denen er ausgeschlossen war, kam es ihm vor, als ob sie ein Geheimnis teilten, von dem er nichts wissen wollte (17).

Marty ist eben auch ein Mann, an dem das (gesellschaftliche) Leben vorbeizuziehen droht – die Zeichen der Zeit haben sich gewandelt, während er in die Sterne schaute. Der Einzug digitaler Helfer, die Verlagerung des Lebens in virtuelle Welten sowie neue Diskurse um Geschlecht sind in diesen Text eingewoben ebenso wie die Frage, wie lange die Erde uns noch trägt. Während Marty in seiner Arbeit immer weiter in den Weltraum blickt, ist sein Horizont hier auf Erden verengt. Die Reise, die Der verschwundene Mond letztlich abbildet, ist eine in das große andere Unbekannte hier auf Erden: Das Innere des Menschen. Die Initialzündung zur Ausdehnung Martys Kosmos bildet dabei ein Zufallsbekanntschaft mit einem Psychoanalytiker, der ihm ein Manuskript zu lesen gibt, das sein Koordinatensystem durcheinanderbringt. Im Traum erscheint ihm die scheinbare Lösung: “Kollidieren Sie und schauen Sie sich die Trümmer an!” (108).

Der verschwundene Mond ist ein ruhiger, äußerlich fast schlichter Text, der in seiner Reduktion wunderbar fokussiert erscheint und mehr erzählt, als mancher Roman doppelter Länge.

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Der verschwundene Mond ist bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen.

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