Urgh, was für ein Jahr. Aber wenn es etwas gibt, dass man ohne Einschränkungen in gewohnter Form machen konnte, dann lesen. Und ich muss sagen: Es war ein gutes Lesejahr, überraschend auch. Denn ich kann mich nicht daran erinnern, in der Vergangenheit derart viele Erzählbände in den Programmen deutschsprachiger Verlagshäuser gesehen zu haben. Überraschend ist auch, zumindest für mich persönlich, dass ich keinen dieser Bände zu meinen drei besten Büchern dieses Jahres gewählt habe.
Es waren dennoch einige gute Titel dabei: Mit Abschiedsfarben hat Bernhard Schlink einen wirklich gelungenen Band über das Alter und Abschiede aller Art veröffentlicht. Im Mutterland der Kurzprosa legte Peter Kispert mit I Know You Know Who I Am ein thematisch stimmiges Debüt über die Lügen, die Menschen über sich erzählen, vor. Ian Stansels Glossary for the End of Days fing die Verwerfungen des trumpschen Amerikas in wunderbar originellen Stories ein und verpasste nur knapp den Sprung aufs Podest, ebenso wie der Däne Jonas Eika, dessen ambitionierter Band Nach der Sonne von der Kritik gefeiert wurde, sich meiner Einschätzung nach jedoch etwas zu sehr in erzählerischem Schnickschnack verlor. Gut möglich also, dass wenn diese Liste auf zehn Titel ausgedehnt werden würde, mindestens die Hälfte aus Erzählbänden bestünde.
Allegro Pastell von Leif Randt
Dass Allegro Pastell auf dieser Liste stehen würde, war schon klar, als ich meine Rezension dazu im März veröffentlichte. Der Roman ist ein erzählerisches Meisterstück, dass scheinbar ohne jede Anstrengung die unterschiedlichen Kommunikationswege heutiger menschlicher Interaktion miteinander verwebt. Die Integration digitaler Kanäle – von Chat über Sprachnachricht bis E-Mail – gelingt hier samt Emojis wunderbar fließend. Von Medienbrüchen keine Spur. Stilistisch über jeden Zweifel erhaben, bewegt sich Leif Randt auch inhaltlich am Puls der Zeit. Man muss nicht unbedingt Gefallen am von Anglizismen gesäumten Vokabular seiner Protagonisten finden, um diese verbindlich-unverbindliche Liebesgeschichte und die Lebensumstände der beiden freiberuflich arbeitenden ü30er glaubhaft zu finden.
Death in Her Hands von Ottessa Moshfegh
Ich habe es schon oft gesagt und ich wiederhole mich gern: Ottsessa ist die Beste. In ihrem dritten Roman spielt die Amerikanerin wunderbar unterhaltsam mit den Konventionen des Detektivromans, indem sie ihre Vesta – eine ältere Witwe – über eine Notiz stolpern lässt, die von einem Mord erzählt. Doch gab es das Mädchen jemals, das umgebracht worden sein soll? Absolut auf sich allein gestellt, erfindet Vesta praktisch den Kriminalfall, für den es absolut keine Belege gibt. Tatsächlich ist Death in Her Hands weniger ein Kriminalroman als eine Studie darüber, was Isolation mit der Fantasie eines Menschen anstellen kann.
Die deutsche Übersetzung wird im kommenden Jahr unter dem Titel Der Tod in ihren Händen bei Hanser erscheinen.
Die Gespenster von Demmin von Verena Kessler
Zum Schluss ein Debüt: Verena Kessler erzählt in Die Gespenster von Demmin von Larry, die in einer Kleinstadt aufwächst, die durch einen der größten Massenselbstmorde der deutschen Geschichte bekannt ist. Die Vergangenheit fließt immer mit: Während Larry in ihrem Prozess des Erwachsenwerdens eine tragische Familiengeschichte und die Unwägbarkeiten der Pubertät verarbeiten muss, steht ihre Nachbarin am Ende ihres Lebens und wird von Erinnerungen heimgesucht, als die Mütter der Stadt zum Kriegsende in die Peene stiegen, ohne wiederzukehren.
In diesem Text stecken große Fragen, zum Beispiel nach Erinnerungskultur. Und auch wenn hier und da im Feuilleton zu lesen war, dass sich Kessler an solch schweren Themen etwas verhebt, ist es doch gerade dieses eher unbestimmte Nebeneinander persönlicher und historischer Geschichte, mit dem sie diese Fragen unbenannt im Text wehen lässt, eine der großen Qualitäten dieses Werkes. Denn überwiegend betrachten wir hier die Welt aus den Augen einer Heranwachsenden, deren Zeichnung vor allem in sprachlicher Hinsicht absolut gelungen ist.
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