Nach seinem lesenswerten Debütroman The Last Cowboys of San Geronimo legt Ian Stansel mit Glossary for the End of Days seinen zweiten Erzählband vor. Das klingt nach Endzeitstimmung und passt doch sehr zum aktuellen Moment – Trump, Corona, Klima. Trübe Aussichten, Verunsicherung, der Wunsch, zurückzugehen und die Dinge zu ändern, verbinden die Texte dieser gleichsam melancholischen und einfallsreichen Sammlung.
Die Flucht in eine andere, alternative Realität eröffnet Glossary for the End of Days. “John Is Alive” erzählt von Cousins, die sich abends in der Schlage vor einem Plattenladen treffen. John Lennon wurde nie erschossen, die Beatles sind wieder vereint. Aber in jeder Version der Realität lauert Tragik und in dieser wohnt sie in der Cousine des Erzählers. Genauso wenig wie er die Zeit zurückdrehen kann, um sie zu retten, kann eine Familie in “North out of Houston” die Verwerfungen der Vergangenheit glätten. Es ist eine symbolisch aufgeladene Geschichte um sexuelle Identität, in der eine Familie auf dem Highway im Stau steht, weil sie vor einem Hurricane flüchtet.
Während diese zwei Geschichten von sehr persönlichen Schieflagen erzählen, die sich nicht mehr gerade biegen lassen werden, nimmt “Coordinated Efforts” die tiefen Gräben ins Visier, die mit Donald Trumps Präsidentschaft sichtbar geworden sind. Nach einem Sturm ist die Elektrik ausgefallen, nur sind es die eher liberalen Viertel der Stadt, bei denen sich die Reparaturarbeiten verdächtig lang ziehen. Man macht das beste draus, hat abendliche Soirees bei Kerzenschein. Der Erzähler – ein Universitätsprofessor – wurde sogar tätlich angegriffen nach der Wahl. Ablehnung erfährt er auch von der Bedienung im nahegelegenen Coffee Shop, die ihn dann aber doch nicht mehr loslässt und ihm eine Lektion erteilen wird.
Misstrauen in einem sich zerstäubenen Land spielt auch in “How to Be Free” eine zentrale Rolle. Hier nimmt uns Stansel mit zu einer Konferenz von Verschwörungstheoretikern, die sich untereinander natürlich auch nicht grün sind – die Lage eskaliert. Die Titelgeschichte taucht ab in die letzten Tage einer Sekte. Der Erzähler ist der einzige Überlebende eines Massenselbstmords. “Modern Sounds in Country and Western” erzählt hingegen von zwei Schwestern, die sich fremd werden und deren aufstrebende Karriere als Indie-Band ein jähes Ende durch einen Terroranschlag findet.
In diesen Geschichten steht viel auf dem Spiel. Die Protagonisten verlieren sich, suchen Halt in einer Gesellschaft, die auseinander driftet. Die beste Erzählung der Sammlung, “The Caller”, verbindet das Politische und Persönliche auf wundersame Weise. Max ruft bei Voices for the Lost an, einer Radiosendung, bei der Hinterbliebene von vermissten Verwandten erzählen, die vermutlich durch Kartell-Gewalt verschwunden sind. Max ruft unbedacht dort an, vielleicht, um eine Verbindung zu finden, die aus seinem “traurigen Erstaunen, am Leben zu sein”, hinausführt. Dafür schreibt er die Geschichte seines vor lange Zeit in Chicago ermordeten Bruders neu als jemand, der seit dem letzten Urlaub in Juarez vermisst ist. Der Fall – vermisster Amerikaner in Mexiko – geht viral und wird zur Belastungsprobe für Max. Gleichzeitig zeigt der Text den Unterschied auf, was es medial gesehen bedeutet, wenn ein weißer US-Amerikaner verschwindet oder ein Mexikaner.
In den neun Erzählungen in The Glossary for the End of Days ist eine Menge los – vom Hurricane über Terrorismus bis zum Massenselbstmord und Donald Trump werden große Kaliber aufgefahren. Stansels Einfallsreichtum und sprachliches Vermögen sorgen aber dafür, dass hier nichts aus der Hand gerät. Konzentriert und gefühlvoll erzählt er von seinen Protagonisten, denen auf die eine oder andere Weise die Welt abhanden kommt.
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The Glossary for the End of Days ist bei Acre erschienen.
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