Eine unbequeme Vorstellung: Während man gemütlich auf der Couch sitzt, springt woanders womöglich jemand von einem Dach. Die Gleichzeitigkeit allmöglicher Dinge, von Glück und Tragik, ist schwer miteinander in Einklang zu bringen. Simone Lappert macht mit ihrem überaus gelungenen Roman Der Sprung genau dies und findet Berührungspunkte in oberflächlich betrachtet voneinander losgelösten Leben.
Der Sprung ist eine Art Episodenroman, der aus vielen Leben in einer Kleinstadt erzählt, die alle auf die eine oder andere Weise von einem Ereignis berührt werden. Lappert verdichtet dabei den Alltag ihrer Figuren und lässt ihn aus der Bahn springen. Der titelgebende Sprung ist also wörtlich als auch metaphorisch zu verstehen: Eine Frau steht auf dem Dach eines Wohnhauses, sie stürzt in die Tiefe. Es ist ein Schauspiel, das sich vor den Augen der Stadtbewohner über einen langen heißen Tag im Mai abspielt und deren Alltag bricht.
Alternierend wechselt die Erzählung die Perspektive, erzählt in kurzen, oft nur zwei bis drei Seiten langen Kapiteln von den Personen, die dieses Ereignis streift. Sie alle befinden sich in einem Alltag, der dadurch einen Sprung bekommt: Da sind die Eigentümer eines kleinen Tante Emma Ladens, der eigentlich vor der Insolvenz steht, nun aber ob des Ereignisses zahlreiche Kundschaft hat. Da ist der Polizist, der mit der Klärung des Vorfalls beauftragt ist und dadurch mit einem tragischen Kindheitsereignis konfrontiert wird. Weiter weg in Italien sitzt ein verzweifelter Designer, dem das Sahnehäubchen für die aktuelle Kollektion fehlt und der in der Berichterstattung zur springenden Frau genau die Inspiration findet, auf die er gewartet hat. Unterdessen wagt eine Frau ein Abenteuer in Paris, weil sie aufgrund der springenden Frau nicht in ihre Wohnung kann und ihren lieblosen Mann nicht erreicht.
Wir sind doch nicht alle so losgelöst voneinander, wie es den Eindruck hat, scheint die These dieses Romans zu sein. Der Sprung bietet ein zuweilen etwas überbordendes Personal, was es nicht immer einfach macht, den Einzelgeschichten zu folgen. Zu viel Zeit sollte man zwischen den Leseetappen nicht verstreichen lassen, um nicht den Faden zu verlieren. Nichtsdestotrotz hält Lappert hier alle Fäden souverän in der Hand. Auch wenn der Ausflug nach Italien beispielsweise nicht unbedingt nötig gewesen wäre und den Bogen etwas zu überspannen droht, bringt sie diese Episoden immer wieder schlüssig und ungezwungen zusammen und eine Kleinstadt samt ihren Bewohnern zum Leben. Die Bezugspunkte untereinander sind mal mehr, mal weniger drängend, werden nie zuerzählt oder unnötig mit Bedeutung aufgeladen. Diese vielen kleinen Teile ergeben tatsächlich ein großes Ganzes, sie erklären nicht, sie zeigen: Eine kleine Geste kann eine große Wirkung haben und der Sprung aus einem alten Leben kann in einem neuen münden.
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Der Sprung ist bei Diogenes erschienen.