Der Start ins Bücherjahr 2019 war etwas verhalten. Nur wenig hat mich im ersten Halbjahr so wirklich von den Socken gehauen. Zurückblickend ein Trugschluss. Denke ich daran, welche drei Bücher ich aus diesem Jahr uneingeschränkt empfehlen würde, fallen mir doch einige ein. Besonders das Herbstprogramm hatte viele Perlen zu bieten.
Sicher keine Meilensteine, aber erwähnenswert: Mit Schöner als überall hat Kristin Höller einen wirklich lesenswerten Debütroman vorgelegt. Ein wunderbar erzählter, kurzweiliger Adoleszenzroman – in diesem Genre vielleicht der stärkste Text, der mir in diesem Jahr zwischen die Finger kam. Eine äußerst positive Überraschung ist auch der Veteranin Alexa Hennig von Lange gelungen, die in dem für ihre Verhältnisse reduzierten Roman Die Weihnachtsgeschwister ihrer inzwischen schwer zu überblickenden Bibliographie ein Highlight hinzugefügt hat.
Eine weitere schöne Überraschung sind die Erzählbände, die dieses Jahr von deutschsprachigen Autoren veröffentlicht wurden. Zwar war auch mal ein Ausfall dabei, aber von Clemens J. Setz (Der Trost runder Dinge) über Christoph Strolz (Wenn ich blinzle wird es besser) bis Maike Wenzel (Entfernte Geliebte) waren überzeugende Titel dabei.
Kurzum: Ich würde locker auf mehr als fünf Bücher kommen, die es in diesem Jahr verdient haben, gelesen zu werden. Doch wonach treffe ich dieses Jahr meine Auswahl? Was mich persönlich am meisten angesprochen hat? Was literarisch am gelungensten ist? Oder was beide Dinge vereint und gleichzeitig am meisten am Puls der Zeit ist?
Die letzte Frage ist letztlich der Schlüssel zur folgenden Auswahl. Denn mit Eine Liebe in New York von Tadeusz Dąbrowski erschien im Frühjahr einer meiner Lieblingsromane in diesem Jahr. Es ist ein kleines feines, postmodern erzähltes Buch über die Liebe und das Schreiben. Aber dieser Text hätte auch vor zehn Jahren erscheinen können, ihn bindet nichts an das Jahr 2019. Also: Im Folgenden drei Bücher, die sich nicht nur vorzüglich lesen, sondern über die es sich auch wunderbar sprechen lässt, weil sie uns viel über die heutige Zeit erzählen.
Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten von Emma Braslavsky
Emma Braslavsky ist mit Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten eine unterhaltsam zu lesende Dystopie gelungen, die sich erschreckend nah anfühlt. In ihrer nicht datierten Erzählung bevölkern beinah so viele Roboter wie Menschen die Hauptstadt. Ihre Protagonistin ist einer davon.
Im Berlin der Zukunft muss kein Mensch mehr allein bleiben. Anstelle endlose Dates über sich ergehen zu lassen, lässt man sich den Lebenspartner programmieren. Von Charakter bis Aussehen kann jeder das Passende herstellen lassen. Der Traum von erfüllter Zweisamkeit gerät zum Algorithmus, die Zahl der Selbstmorde übersteigt die der natürlichen Tode.
Braslavskys Roberta ist beauftragt, einen dieser Selbstmorde aufzuklären, damit der Staat nicht auf den Kosten sitzen bleibt. Sie ist mitunter das Menschlichste in diesem Roman, in dem die wahren Roboter in der Berliner Verwaltung sitzen.
Zur ganzen Besprechung des Buchs.
Alle wollen was erleben von Fabian Hischmann
Wie eingangs erwähnt, war es dieses Jahr ein starkes Jahr in Sachen Kurzprosa. Sehr viele gelungene Bände wurden veröffentlicht, Die kennen keine Trauer von Bjarte Breiteig sollte hier beispielsweise auf keinen Fall unerwähnt bleiben. Aber denke ich an meine drei führenden Fragen, dann fällt mir die Entscheidung leicht: Fabian Hischmann kann von mir aus über den letzten Besuch bei seiner Oma schreiben, stilistisch gesehen hat der Mann bei mir ein Stein im Brett. Und er fasst heutige Lebensverhältnisse, wenn auch nur die des Bildungsbürgertums, ins Visier.
In Alle wollen was erleben schreibt er natürlich nicht über seine Oma, sondern über Menschen, den es in unserer Wohlstandgesellschaft eigentlich gut geht, denen doch etwas fehlt, das sie in aller Regel selbst gar nicht benennen können. Da ist das schwule Paar, das mit Heirat und Kind im Mainstream angekommen ist und sich dennoch zu verlieren droht oder die junge Frau, die als Freiwillige nach Afrika fährt und sich noch nutzloser fühlend wieder zurück kommt, gefangen von einer Rastlosigkeit, einem unbestimmten Wunsch, irgendetwas zu erleben und darüber vielleicht Sinn zu erfahren. Das ist natürlich ein Trugschluss, denn das Erleben ist immer nur momentan, aber es fängt etwas über unsere Gesellschaft ein, in der Erleben eine Art soziale Währung geworden und eine App wie Instagram der Index dafür ist. Alle wollen was erleben ist ein wunderbar geschriebener Erzählband über die weiße Wohlstandgesellschaft von heute und die Frage, was Erfüllung in ihr eigentlich bedeutet. So gesehen besteht durchaus auch eine Verwandtschaft zu Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten.
Zur ganzen Besprechung des Buchs.
Weiß von Bret Easton Ellis
Nach Roman und Erzählband noch eine Sammlung mit Essays. Bret Easton Ellis – Idol und somit auch mitschuldig an meinem Amerkanistikstudium – hat zum ersten Mal ein nicht-fiktionales Buch veröffentlicht, das zu großen Teilen aus Material besteht, das sich aus seinem hervorragenden Podcast speist. Es geht dabei um einen Kulturwandel, den er in den USA beobachtet. Teils kulturkritischer Essay, teils Memoire nimmt er uns mit in die 1970er seiner Kindheit, als es noch keine Helikopter-Eltern gab und er weitestgehend unbeaufsichtigt durch Los Angeles zog und seine Freizeit damit zubrachte, ins Kino zu gehen. Er erzählt vom Wandel des Hollywood-Kinos, des Verlagswesens und des öffentlichen (auch politischen) Diskurses. Unter anderem lamentiert Ellis das Verschwinden des Films als dominantes Medium in der Gesellschaft und eine zunehmende Vereinnahmung bzw. Durchdringung der Kunst durch Konzerne: Was in China gezeigt werden darf, bestimmt inzwischen oft die Inhalte von Hollywood-Filmen. Film- bzw. Kulturkritik allgemein befindet sich in ähnlich schlechtem Zustand: Die Bewertung von Filmen wie Black Panther orientiert sich eher an ihrem ideologischen Gehalt bzw. der Repräsentanz von Minderheiten als an deren ästhetischem Wert. Ellis fragt, ob die Kunst wirklich noch frei ist – würde sein Klassiker American Psycho heute noch publiziert werden “dürfen”?
“And while it’s nice to feel virtuous, it’s worth considering whether feeling virtuous and being virtuous are actually the same thing” (89).
Weiß ist kein politisches Buch in dem Sinne, dass es Partei für eine politische Richtung ergreift. Im Kern befasst es sich mit einem Kulturwandel, Kunst- und Redefreiheit. Dennoch wurde es in den USA sehr politisch diskutiert. Der provokante Titel des Buches – eigentlich sollte es sogar White Privileged Male heißen – tut sein übriges. Das Erregungspotenzial ist, vor allem in sozialen Medien, bei manchen Themen hoch. Da reicht schon die bloße Verwunderung ob der Konzeptionslosigkeit, mit der die Linke Trump begegnet, um zum Trump-Apologeten diffamiert zu werden (die Ironie bewirft Kritiker hier mit Popcorn: American Psycho’s Juppie/Serienmöder Patrick Bateman modellierte Bret Easton Ellis nach Trump – ein wahrhaft prophetisches Buch!). Auf Virtue Signalling, Cancel Culture, einen “cult of victimization” (17), “cult of likability” (33) und das “authoritarian moral superiority movement” (142) hat Ellis einfach keinen Bock. Gut für ihn und gut für uns, dass einer der einflussreichsten Autoren der Gegenwart sein Wort in die Waagschale wirft. Man muss nicht allem zustimmen, was Ellis hier schreibt. Aber es ist ein im Großen und Ganzen überzeugendes Plädoyer für die Meinungs- und Kunstfreiheit und gehört für mich definitiv zu den wichtigsten Büchern des Jahres. Ihm überlasse ich daher die letzten Worte auf diesen Seiten in diesem Jahr:
“I have to believe in free speech no matter what – that’s as simple and true as it gets” (109).