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Im Spiegel der Erinnerungen: Erstaugust von Lisa Elsässer

Erstaugust Lisa Elsässer RezensionIch bin immer wieder verzückt von den sprachlichen Qualitäten schweizerischer Erzählliteratur. Auch wenn das gesprochene Deutsch der Eidgenossen mir unverständlich bleibt, auf dem Papier kommt es klar wie Gebirgsquellwasser und bildreich wie die schönsten Alpenpanoramen. Auch Lisa Elsässer findet in ihrem Erzählband Erstaugust immer wieder schöne Formulierungen, vermag es dabei aber nicht, ihrem Material die nötige Dringlichkeit zu verleihen. Erstaugust ist eher ein kleines Rinnsal, das gemächlich vor sich hin plätschert.

In Erstaugust verhandelt Lisa Elsässer große Themen in kleinen Geschichten: Erinnerung, Liebe und Vergänglichkeit bringt sie auf knapp 155 Seiten zusammen. Erzählt wird in einem ruhigen Ton, gelegentlich, das ist zumindest mein Eindruck, nah am Leben der Autorin. So studierte die im Kanton Uri geborene Schriftstellerin am Leipziger Literaturinstitut, wie Ihre Erzählerin in dem Text “Hier bin ich”. Elsässer findet einen bildreich verschwurbelten Einstieg in den Text und scheint sich dann assoziativ durch ihn zu bewegen. Von den Seen ihrer Heimat zu den Seen Leipzigs, von der flachen Lohntüte des verstorbenen Vaters zum flachen Leipziger Land, erzählt Elsässer von der Selbstverortung als Autorin, die als Schreibende wohl eine ähnlich ebene Lohntüte wie einst der Vater hat und am Literaturinstitut aneckte, weil sie die gängigen Regeln des Erzählens nicht befolgte. Die Passage kann als trotzige Selbstvergewisserung und Warnung an den Leser gelesen werden, denn die Texte in Erstaugust sind tatsächlich eher spannungsarm erzählt und verzichten auf konventionelle Plots.

Ich habe die Schreibschule abgeschlossen, mit der Kindheit offenbar noch nicht (28).

Die autobiografische Nähe mancher Texter und die Auseinandersetzung mit der Kindheit erinnern mich an den letztjährig im selben Verlag erschienenen Erzählband Flüchtiges Zuhause von Rolf Hermann, wenngleich Erstaugust nicht annähernd so homogen und wirkungsvoll wie Hermanns autobiografische Sammlung über das Heranwachsen und die sich wandelnde Heimat ist. Auch dieser Band hatte wenig im Hinblick auf Dramaturgie zu bieten, doch waren die Texte untereinander so stimmig und die Sprache darin von einer geradezu berauschenden Formulierlust geprägt, dass das gar nicht weiter ins Gewicht fiel. Bei Erstaugust ist das bedauerlicherweise anders: Einserseits hält der ruhige Ton die Texte zusammen, gleichzeitig variieren sie stark sowohl in Länge als auch Textart. Die zehn Erzählungen sind zwischen zwei und fast vierzig Seiten lang, hinzu kommt ein Gedicht. Manche Geschichten scheinen autobiografisch zu sein, andere weiter weg von der Autorin.

Thematisch bringt sie die Texte in dem Gedicht “WAS DAS LEBEN AM BESTEN KANN” zusammen. Hier schreibt sie “viel zu schnell wird eine geschichte geschichte” (85) und dass das Leben es am besten kann, einfach weiterzugehen. Die Dinge, die geschehen, haben für sich keine Bedeutung, doch nur weil sie vergangen sind, müssen sie für den Einzelnen nicht abgeschlossen sein. Auch wenn das für sich genommen keine große Erkenntnis ist, in den besseren Momenten der Sammlung gelingt es Elsässer, das zu zeigen, ohne es für den Leser auszubuchstabieren. Die Eröffnungsgeschichte “Erstaugust” erzählt beispielsweise von einem Mädchen, das im Sommer auf einen Bauernhof geschickt wird. Die Zeit vergeht langsam, das Heimweh ist groß, ebenso wie die Enttäuschung darüber, dass ihr die Mutter nicht wie den Brüdern sonst zum 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, ein Päckchen schickt. Rückblickend ergreift die Erzählerin die Sehnsucht nach diesem Sommer und ihrer Bekanntschaft Hedwig. Die Wahrnehmung zu diesem Sommer hat sich gewandelt. War er im Erleben zu lang, ist er inzwischen zu einer Geschichte geworden, die leider vorbei ist.

Erinnerung, Sehnsucht und Vergänglichkeit spielen auch im stärksten Text der Sammlung eine zentrale Rolle und werden stimmungsvoll verdichtet. In “Spiegel” erzählt die Protagonistin davon, dass sie im Badezimmerspiegel die Reflexion des Nachbarbalkons sieht, wo ein sehbehinderter Mann jeden Abend sitzt. Die Dunkelheit, in der der ältere Mann lebt, fasziniert die Erzählerin, “sie verändert das Sehen!” (92). Sie steht für die eigene Vergänglichkeit und eine neue Sicht auf die eigene Vergangenheit. Die Gegenwart des älteren Mannes, der ihr stumm Gesellschaft leistet, ohne dass beide in direkten Kontakt zueinander treten, triggert Erinnerungen an den eigenen, inzwischen verstorbenen Vater, der ihr fremd blieb. Der alte Mann spiegelt das Verhältnis der Frau zu ihrem Vater – beide sind verschwunden in der Dunkelheit.

Erinnerung und Kindheit sind nicht die einzigen Themen, die in Erstaugust auftauchen. Auch Liebe, Leidenschaft und was der Mensch zu verwinden vermag, werden thematisiert. In “Mittsommernachtstraum” trifft sich eine Frau mit der Eroberung ihres Mannes, in “Wildheuen” geht eine Frau eine Affäre mit der Wanderbekanntschaft ihres geschäftsreisenden Mannes ein. “Irgendwas läuft immer schief” erzählt hingegen von einer Frau, die außer Wanzen nichts von ihrem Sprachurlaub in London mitnimmt – die Erzählung wirkt etwas wie ein Fremdkörper in der Sammlung. Sie hätte auch von einem pointierteren Stil profitiert. Das führt mich dann auch zur Schwachstelle des Erzählbandes: Elsässer macht zu wenig mit ihrem Material. Obwohl einige der Erzählungen auf inhaltlicher Ebene einen starken Ansatz haben, verpasst die Autorin, für Überraschungen zu sorgen und den Texten Momentum zu verleihen – trotz ihres kurios häufigen Gebrauchs von Ausrufezeichen.

Die Lyrikerin in Elsässer bringt wieder und wieder schöne, bildhafte Formulierungen aufs Papier. Doch es scheint, als würde sie sich in diesen Erzählungen zu sehr auf ihre lyrischen Qualitäten verlassen. So sind die meisten dieser Texte trotz verschiedener Erzähler im selben Ton erzählt. Der Verzicht auf eine Plot-basierte Erzählstruktur hätte eine aufregende, abwechslungsreiche stilistische Gestaltung erfordert, um ihr Material mit Leben zu füllen. Elsässers Ausführungen zu ihrer Zeit am Leipziger Literaturinstitut in “Hier bin ich” bezüglich der Kritik an ihrer „unkonventionellen“ Erzählweise bekommen so im Nachhinein einen ziemlich fahlen Beigeschmack.

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Erstaugust von Lisa Elsässer ist im Rotpunktverlag / Edition Blau erschienen.