Lange angekündigt, lange verschoben: Seinen darbenden Verehren schenkt der inzwischen 89-jährige McCarthy, dem man locker drei Klassiker der zeitgenössischen amerikanischen Erzählliteratur zuordnen kann, ein opulentes Mahl mit Nachtisch. The Passenger ist ein verschachtelter, rätselhafter Ideenroman verpackt als Thriller. Es geht um Bobby Western, Sohn eines Mannes, der an der Entwicklung der Atombombe mitwirke, dessen Trauer um die verstorbene Schwester Alicia, welche im fast zeitgleich erschienenen Roman Stella Maris die Hauptfigur ist, sowie dessen scheinbarer Verstrickung in einer Verschwörung. Klingt komplex und verwirrend? Ist es auch!
Wann das mit Jeanne begann von Helmut Krausser
Eine Spritztour durch Frankreich im Mittelalter: Wann das mit Jeanne begann ist die verschachtelte und zumindest für den Leser vergnügliche Erzählung zweiter Weißmagier, die sich in der Geschichte der Jungfrau von Orleans verlieren und dabei dieser zweifelsfrei faszinierenden Figur neue Blickwinkel abgewinnen. Helmut Kraussers Roman ist ein Scharmützel, das seine Karten erst nach und nach ausspielt, fantasievoll und verspielt zugleich, wendungsreich und gut recherchiert.
Individualität, Gemeinwohl: Felix von Holger Brüns
Tom ist Anfang 20 und Teil der links-alternative Szene der Studentenstadt Göttingen Mitte der 1980er Jahre. Er läuft bei Demonstrationen mit, beteiligt sich an Podiumsdiskussionen, macht seinen Zivildienst an der Uniklinik und hängt in der Disko ab. Er hegt den Wunsch, Schauspieler zu werden. Er ist Idealist, lehnt kapitalistisches Besitzdenken ab. Doch wie verhält es sich, als die Liebe von ihm Besitz ergreift? In Felix erzählt Holger Brüns von der alternativen BRD und dem schwierigen Balanceakt zwischen individueller Entfaltung und dem Wunsch, ein Teil von etwas Ganzem zu sein.
Irgendwann werden wir uns alles erzählen von Daniela Krien
Die Mauer ist weg. Im Sommer 1990 erlebt die bald 17-jährige Marie eine Wende im Äußeren und im Inneren. Daniela Kriens Roman Irgendwann werden wir uns alles erzählen entführt den Leser in die ostdeutsche Provinz wenige Monate vor der Wiedervereinigung. Atmosphärisch dicht erzählt, gelingt der Autorin ein packendes Portrait einer Jugend zwischen Aufbruch, Verharren und Unsicherheit.
Die 3 Bücher des Jahres 2022
Sobald die ersten Blätter von den Bäumen regnen, denke ich an die Bücher, die mich in diesem Jahr begeistern konnten. Gefühlt wird es Jahr zu Jahr schwieriger, mich mit mir selbst einig zu werden. Schon bevor in diesem Jahr überhaupt neue Blätter an den Bäumen sprießten, hätte ich schon drei Bücher gehabt. Und während ich das Jahr literarisch Revue passieren lasse und mich durch diese Seite klicke, sind da plötzlich sechs Tabs mit Titeln offen, die ich guten Gewissens hier aufführen könnte…
Wenn Träumen ein Job wäre: Andere Sterne von Ingvild H. Rishøi
Eine moderne Weihnachtsgeschichte: In Andere Sterne von Ingvild H. Rishøi müssen zwei Mädchen in einem Osloer Arbeiterviertel Weihnachtsbäume verkaufen, weil es der alkoholkranke Vater einfach nicht gebacken bekommt. Das klingt erst einmal trist und wenig nach skandinavischer Idylle, hat aber viel Herzliches und erstaunlich wenig Kitsch. Ein gutes Buch, nicht nur während der Adventszeit.
Das Wenige, das noch bleibt: Zensus von Jesse Ball
Ein Roadtrip der etwas anderen Art. In Jesse Balls eigentümlichem Roman Zensus geht ein Vater mit seinem inzwischen erwachsenen, mit Down-Syndrom lebenden Sohn, auf eine letzte große Reise. Episodenhaft und etwas beklommen fahren die zwei durch ein unbenanntes Land, um den Zensus durchzuführen und doch sich selbst zu vermessen.
No happy Vibes: Lento Violento von Maria Muhar
Das 90er Jahre Revival dauert an: Die Wiederkehr vergangener Trends lässt vermuten, wir befinden uns in einem Loop. Symptomatisch dafür ist natürlich elektronische Musik, die ganz zentral auf Wiederholung fußt. Maria Muhars Roman Lento Violento ist gleich nach einer Stilrichtung der Zeit benannt, spielt aber im Österreich der Ibiza-Affäre. Alex, Protagonistin des Texts, ist besessen von Eurodance, hat aber ziemlich wenig Spaß. Ohnehin: Lento Violento ist ein Text, der sich aus Zitaten der Zeit zusammensetzt, aber nichts von ihrer Ekstase birgt.
Berlin, gegenwärtig: Der Hausmann von Wlada Kolosowa
Abwechslungsreicher kann ein Buch kaum sein: Wlada Kolosowas Der Hausmann ist multiperspektivisch erzählt, vereint Prosa mit Graphic Novel und entführt den Leser in das Berlin abseits des S-Bahn-Rings. Hier findet sich Tim, der titelgebende Hausmann, mit seiner Freundin Thea wieder, nachdem sie aus der Wohnung am Maybachufer gentrifiziert wurden. Es ist ein abwechslungsreicher, unterhaltsamer Text nah am Puls der Zeit.
Menschliches Material: Zeremonie des Lebens von Sayaka Murata
Pullover aus Menschenhaar, Happy Future Food, Trauerfeiern, die in kannibalistischen Orgien münden: Sayaka Muratas Zeremonie des Lebens ist ein bemerkenswerter Erzählband, der vor allem durch inhaltliche Originalität zu überzeugen weiß. Die Japanerin erzählt mit verblüffender Selbstverständlichkeit von einer teils ungeheuerlichen nahen Zukunft (oder alternativen Realität?) und lässt den Leser die Sitten hinterfragen, in denen er lebt.