Das Unglück ist passiert, wenige Minuten bevor Carol in das Apartment ihres Bruders Jay läuft. Eben hat sie noch mit ihm telefoniert, jetzt liegt er leblos im Bett. Selbstmord. Dead in Long Beach, California nähert sich dem Trauma über die Vermeidungsstrategie seiner Protagonistin. Die findet eine Nachricht ihrer Nichte Khadija auf Jays Telefon – und antwortet ihr als Jay. Venita Blackburn, die sich mit zwei Short Story Bänden einen Namen machte, hat einen originellen, fast schon bizarren Roman über Trauer geschrieben, der leider nicht vollends überzeugt.
Große Gelassenheit: Brother von Brthr
Die Stuttgarter Experten für slow Country Brthr melden sich mit ihrem vierten Album Brother zurück und expandieren ihren eigentümlichen Sound, ohne an Wiedererkennungswert einzubüßen. Nachdem der Vorgänger High Time for Loners das Duo bereits vom minimalistischen Country-Blues der ersten beiden LPs entfernte und nur bedingt überzeugende, poppige Momente einführte, wendet man sich zum Quartett angewachsen auf Brother dem geschmeidigen Soul der späten 60er und frühen 70er zu.
Revolutionary Romances: Globale Kunstgeschichten in der DDR im Albertinum
Sozialer Realismus und sonst nichts? Die neue Sonderausstellung im Albertinum, Revolutionary Romances: Gobale Kunstgeschichten in der DDR, richtet den Blick auf die in künstlerischer Hinsicht wenig erforschten Beziehungen zum globalen Süden. War die kulturpolitische Hinwendung zu sozialistischen Staaten in Afrika, Asien und Südamerika gelebte Solidarität oder kalkulierte Propaganda vermengt mit wirtschaftlichen Interessen? Werke und Erzählungen deutscher und ausländischer Künstler zeichnen ein vielschichtiges Bild.
Eine Frau und ihr Drucker: Xerox von Fien Veldman
Eine junge Frau in einem Amsterdamer Start-up kümmert sich mit großer Fürsorge um den ihr anvertrauten Drucker und erzählt ihm aus ihrer Jugend in einem Problemviertel. Nebenbei muss sie noch ein mysteriöses Paket ausfindig machen. Fien Veldmans Xerox ist ein Roman über postmoderne Arbeitswelten, erzählt von Entfremdung und Milieugrenzen in einem eigentümlich trockenen Humor.
“Ich werde nie wieder ein Sklave sein”: James von Percival Everett
Der äußerst produktive Schriftsteller Percival Everett mausert sich zu einer herausragenden Stimme in der amerikanischen Literatur. Sein neuer Roman James zementiert diesen Status – schließlich korrespondiert er zu dem amerikanischen Roman schlechthin: Die Abenteuer des Huckleberry Finn von Mark Twain. Er erzählt diesen Schlüsselroman der amerikanischen Literatur aus der Perspektive des Sklaven Jim, der in Everetts Vision aber lieber James genannt werden möchte.
Er, Hunter, Mann: Trophäe von Gaea Schoeters
Hunter White ist dabei, die Big Five der Großwildjagd voll zu machen, als ihm Wilderer in die Quere kommen und “sein” Nashorn schießen. Er hat einen höheren sechsstelligen Betrag für die Jagdlizenz hingeblättert und steht nun ohne Trophäe da. Doch Van Heeren, sein Freund und gewissermaßen Jagdrevierleiter, macht ihm dann ein Angebot: Wie wäre es mit den Big Six – der Jagd auf Menschen? Gaea Schoeters’ Trophäe ist ein hoch spannender, komplexer Roman, der Joseph Conrad und Ernest Hemingway ins postkoloniale Zeitalter holt.
Alles nur geklaut? Yellowface von Rebecca F. Kuang
Juniper ist neidisch auf Athena: Während ihre einstige Yale-Kommilitonin der bildhübsche, asiatisch-amerikanische Darling des Literaturbetriebs ist, war Junipers autobiografischer Debütroman ein Rohrkrepierer. Doch dann, am Ende einer durchzechten Nacht, stirbt Athena und Juniper klaut ihr neuestes Manuskript. Anstatt es dem Nachlass zu übergeben, beansprucht sie den Text für sich – und landet einen Bestseller. Doch Zweifel kommen auf: Warum sollte eine weiße Amerikanerin einen Roman über chinesische Arbeiter während des Ersten Weltkriegs schreiben? Rebecca F. Kuangs Yellowface ist ein rasanter Literatur-Thriller über Autorenschaft, die sozialen Medien und die Frage, wer über wessen Leid schreiben darf.
Kalte Leidenschaft: Arctic Mirage von Terhi Kokkonen
Der Anfang ist das Ende: Auf der ersten Seite des Debütromans von Terhi Kokkonen hat Karo ihren Mann ermordet, der – immerhin – in den letzten Augenblicken seines Lebens doch noch die Polarlichter sehen darf. Das Paar hat einen Urlaub in Lappland gemacht und ist nach einem Unfall in der Hotelanlage Arctic Mirage gestrandet. Der Roman erzählt in leicht beklommener Atmosphäre rückblickend, wie es zu der Tat kam.
Kinder des postsozialistischen Ostens: Weltalltage von Paula Fürstenberg
Ein raffinierter Roman über Freundschaft, Krankheit und das Aufwachsen im postsozialistischen Osten: Paula Fürstenbergs Weltalltage ist ein Highlight des literarischen Frühjahrs, in dessen Zentrum eine kriselnde Freundschaft steht. Dabei entfaltet sich nicht nur ein Portrait der Ich-Erzählerin und ihres besten Freundes, sondern auch des Aufwachsens im Post-Wende-Osten.
Der absteigende Ast: Tahara von Emanuel Bergmann
“Marcel Klein [war] im Grunde nur ein Mensch, der die Kunst des Glücklichseins nie erlernt hatte” (5), stellt uns Emanuel Bergmann den Protagonisten seines am Rande der Filmbranche spielenden Romans Tahara vor. Vielleicht wird er das mit dem Glück nie lernen, denn er hat sein halbes Leben schon gelebt, eine Scheidung hinter sich und einen Job als Filmkritiker, der ihm nicht mehr alle Rechnungen zahlt. Etwas Licht – und Drama – kommt in sein Leben, als er der melancholisch-schönen Héloïse begegnet. Deren Name setzt sich laut Wikipedia übrigens “aus den Elementen heil „Glück“, „Gesundheit“, „heilig“ und víđ „weit“, „getrennt“, „entfernt“ zusammen”.