Notfallkontakte ist Esther Beckers erster Erzählband und glänzt mit tonalem Variantenreichtum. Die vierzehn Texte haben Platz auf hundert Seiten – es ist also überwiegend klassische Kurzprosa, die inhaltlich von einem feministischen Impuls zusammengehalten wird. Zwischen ernst, unterhaltsam, rätselhaft und politisch präsentiert die sonst als Dramatikerin arbeitende Autorin und ihr Verlag eine gelungene Sammlung.
Die erste Story, „Ich war hier“, ist eine Miniatur – entwaffnend derb, urban und melancholisch. Erzählt wird vom ersten Schnee und einem Date, das wohl nur ein One-Night-Stand bleiben wird. Es folgt „Luftraum“, die Geschichte eines privilegierten Mädchens in Vorbereitung seiner nächsten Geburtstagsparty, die zu einem echten Event werden soll. Eine Mitschülerin kam bei ihrer Party mit einem Hubschrauber angereist – also ist Klotzen, nicht Kleckern angesagt. Die Sprache hat Verve, die Struktur ist dafür etwas simpel.
Richtig in Fahrt kommt die Sammlung im Mittelteil. „Anleitung zum Abstieg“ ist eine kafkaesk angehauchte Erzählung, in der eine Frau ein sich auftuendes schwarzes Loch beobachtet, das alles zu verschlucken droht. Geht es um das Unheimliche im Gewöhnlichen, um einen Abstieg in die Depression? Es ist ein angenehm bedeutungsoffener Text mit einem gelungenen Perspektivwechsel in der zweiten Hälfte. Das Glanzstück folgt auf dem Fuße: „Notfallkontakte“ ist die im klassischen Sinn formvollendete Erzählung des Bandes. Die Erzählerin besucht ihren Vater im Krankenhaus; elegant und melancholisch gleitet der Text zwischen der erzählten Gegenwart und der frischen Trennung von der Ex hin und her.
In der Erzählung „Rettung“ stolpert die Erzählerin über ihr eigenes magisches Denken, das Suchen und Überbewerten von Zeichen – in diesem Fall Rettungsringen an Brücken –, das droht, ihre frische Beziehung platzen zu lassen.
Es sind nicht nur schieflaufende Liebschaften, die die Autorin als Stoff heranzieht. Auch im Zeitgeschehen wird sie fündig. Zu erwähnen wäre hier die Erzählung „Der Prozess“, in welcher sie als Erzählerin eine Gerichtszeichnerin imaginiert, die einem Strafprozess beiwohnt. Es handelt sich um einen realen Fall: Es geht um Gisèle Pelicot, die durch ihren Ex-Mann 50 Tätern zugeführt wurde. Der Fall bekam seinerzeit einiges an Medienecho – auch durch den Mut der Geschädigten, die auf einer öffentlichen Verhandlung bestand.
Notfallkontakte ist ein abwechslungsreicher Band, der privat und politisch, melancholisch und verspielt kann. Gelungen.
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Notfallkontakte von Esther Becker ist beim Verbrecher Verlag erschienen.
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