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Lösch dich aus: Zeiten der Langeweile von Jenifer Becker

Zeiten der Langeweile von Jenifer BeckerIch poste, also bin ich? In Jennifer Beckers Roman Zeiten der Langeweile steigt die Ich-Erzählerin Mila aus. Kein kurzes digital Detox, sondern ein gezieltes Löschen jeder Hinterlassenschaft im Internet, geboren aus einer ungewissen Angst vor der eigenen digitalen Sichtbarkeit. Was gestern cool war, ist morgen vielleicht der Grund, warum man gecancelt wird. Zeiten der Langeweile ist ein Text, der über Identität und Gesellschaft nachdenken lässt.

2021 gab es rund 4,9 Milliarden Internetnutzer weltweit. Das ist etwas mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung. In Berlin, wo Mila, Mitte 30, lebt, ist der Prozentsatz sicher viel höher. Kann man am Leben eigentlich noch teilnehmen, wenn man nicht mehr online ist? Die Frage beschäftigt die junge Doktorandin weniger, als sie beschließt, vorerst aus der digitalen Welt auszusteigen. Es ist eher die Angst öffentlicher Bloßstellung, die sie veranlasst, erst ihre Social Media Apps zu löschen und später systematisch alle auffindbaren Google-Treffer unter ihrem Namen aus dem Netz entfernen zu lassen.

“Totale Entfremdung anstelle von heroischer Selbstfindung” (176).

Es ist ein bisschen paradox: Aus der diffusen Angst, aufgrund irgendeines vergangenen Posts gecancelt zu werden, cancelt sie sich lieber selbst. Der Schritt aus der Online-Welt hat tiefschürfende Folgen für das gesellschaftliche Leben der jungen Frau: Denn über Chat-Apps bleiben wir mit Freunden in Kontakt, über Dating-Apps treffen wir neue Menschen. Doch es ist nicht nur die aktive Teilnahme, die Mila verweigert; ihr Unterfangen bekommt zusehends wahnhafte Züge: Allmählich beginnt sie, Veranstaltungen zu meiden, bei denen sie fotografiert werden könnte, aus Angst, dass ihr Gesicht als Beifang dann in irgendwelchen Instagram-Posts anderer Menschen auftaucht. Was daran so wild wäre, lässt sich am einfachsten über eine Art Kontrollzwang über das eigene Abbild deuten.

Welchem Zweck dient Milas Projekt? Mila erreicht mit ihrer zusehends technologischen Askese eigentlich nichts, außer sich von der Welt zu entfremden. Es entwickelt sich eine Art technologiefeindliche Sozialphobie. Die Leistung des Romans, der sich wie ein wohl reflektierter Erfahrungsbericht einer Kulturwissenschaftlerin liest, ist es, den Leser auf Seite der Protagonistin zu ziehen, bis auch dieser sich im letzten Drittel aus ihrem Gedankengang löst. Das zunehmende Abdriften in eine selbstgeschaffene Bubble, in der nur die Argumente zählen, die eben ihrer Perspektive entsprechen, ihre Angst stärken, entfremdet den Leser wie die wenigen verbliebenen Freunde von der Erzählerin.

Wir leben in paradoxen Vorstellungen von Identität: Begreifen wir sie zunehmend als fluide, schwebt eine unterschwellige Angst mit, dass sie in ihren fragmentarischen Versatzstücken im Netz fixiert ist. Ein unglücklicher Post kann zum Urteil über eine Person, die in diesen Moment eingefroren wird, führen. Aber unsere nicht-materielle Identität ist gekettet an unsere physischen Körper, die sich unaufhörlich bis zum Moment ihrer Auslöschung durch die Zeit bewegen, ohne jemals anzukommen. Wer sich zu finden versucht, wird immer suchen. Das Bild, das Menschen von sich und anderen digital entwerfen, ist so illusorisch wie die Vorstellung, jemals “anzukommen” – und für immer so zu bleiben. Identität ist werden, ohne zu sein.

Wer sind wir, wenn wir nichts mehr posten? Wer möchte Mila sein, welches Leben möchte sie versuchen zu führen? Diese Fragen hätte Mila sich stellen müssen, bevor sie begann, sich virtuell auszulöschen. Als promovierte Kulturwissenschaftlerin ohne Zukunft in der Wissenschaft ist sie mit ihrer Aversion gegen das Internet und zusehends auch gegenüber elektronischer Technik auf dem Arbeitsmarkt kaum vermittelbar. Ihr soziales Netz ist online – wie finden sich andere Menschen, die lieber analog leben, um nicht zu vereinsamen?

So sehr Zeiten der Langeweile von der Bedeutung, die digitale Medien für unser gesellschaftliches Leben heute spielen, erzählt, so sehr ist dieser Roman auch ein Text über post-pandemische Paranoia. Isolation und Verschwörungstheorien brechen vor allem in Form des Bruders, ein Telegram nutzender Impfgegner, in die Erzählung. Eine Welt der multiplen Wahrheiten: Denn Mila schämt sich ein bisschen für den spinnenden Bruder, während sie immer radikaler aus der Welt driftet.
Ein überaus gelungenes Debüt.

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Zeiten der Langeweile ist bei Hanser Berlin erschienen.

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